1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 „Was lungert ihr hier herum“, herrschte er uns an. Da wir zu Hause Dari gesprochen hatten, verstand ich sein Persisch, auch wenn die Aussprache für mich ungewohnt war.
„Wir kommen von Kadér“, sagte ich.
„Mitkommen“, sagte er barsch und lief uns voraus auf ein zweistöckiges Gebäude zu. Der Raum, in den er uns führte, war mit Teppichen ausgelegt und wurde von mehreren Neonlampen hell erleuchtet. An der Rückwand hing ein Wandteppich mit dem Bild einer prächtigen Moschee darauf. Darunter saß ein rundlicher Mann mit spiegelnder Glatze und einem mächtigen Schnauzbart auf einem Sofa und wühlte in einem Haufen Papiere, die er auf dem niedrigen Tisch vor sich ausgebreitet hatte.
„Hier sind welche von Kadér“, stellte uns der Hagere vor. „Sagt ihm, wie ihr heißt.“
Ich nannte meinen Namen und stieß Abdul an, der die Aufforderung wohl nicht richtig verstanden hatte. „Abdul“, sagte der leise. Der Rundliche blickte von seinen Papieren auf, lehnte sich zurück und musterte uns.
„Ich habe euch schon vor drei Tagen erwartet“, sagte er, und nach einer Pause: „Du da“ – dabei zeigte er auf Abdul – „kannst gleich schon mal anfangen. Ist doch wohl noch mindestens eine Stunde hell draußen, oder?“, vergewisserte er sich bei seinem Mann.
„Aber klar doch“, sagte der grinsend und packte Abdul an der Schulter. Der wand sich los.
„Ich bleibe bei Adib. Wir gehören zusammen.“
„Er ist mein Freund“, sagte ich, aber ich wusste, es würde nichts nützen. Dies war offenbar die Ziegelei, in der Abdul ab jetzt arbeiten musste.
„Afghanizag“, sagte der Hagere, der uns hergebracht hatte, verächtlich, packte meinen Freund – diesmal fest an beiden Schultern – und schob ihn vor sich her aus der Tür.
Der Schnurrbart wühlte noch kurz in seinen Papieren, dann erhob er sich seufzend und kam auf mich zu. Er machte einen Bogen um mich und rümpfte die Nase.
„Wie kann man nur so erbärmlich stinken“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir, lief zur Tür vor und sah sich draußen um, als suche er etwas. Dann wandte er sich zu mir um. Es werde ein paar Tage dauern, bis er alles für meine Weiterreise arrangiert haben werde, sagte er. Vor allem das mit den Papieren werde dauern. Mir war das gerade recht. Dann würde es für mich ja wohl ein paar Tage Pause geben – Aussicht also, mich endlich einmal wieder richtig waschen und nachts ungestört schlafen zu können. Womöglich würde es sogar einigermaßen regelmäßig etwas zu essen geben. Der Schnurrbart winkte mich zu sich vor das Haus und zeigte auf einen separaten Eingang am Ende des Gebäudes. „Dort wird man sich um dich kümmern.“ Es klang nicht einmal unfreundlich.
Ein Klopfen riss mich aus dem Schlaf. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Durch das schmale, hochgelegene Fenster fiel ein Streifen Sonnenlicht in das kleine Zimmer mit den kahlen, weißen Wänden. Ich lag hoch über dem Boden, auf einer richtigen Matratze in einem Bettgestell aus Metall. Vor dem Bett, auf dem Boden, mein Rucksack. Das war das Zimmer, in dem ich nun schon zwei volle Tage zugebracht hatte.
Wieder das Klopfen.
„Ja“, sagte ich und setzte mich auf.
Statt der alten Frau, die mir hier dreimal am Tag etwas zu essen brachte, streckte ein auffallend großer, hagerer Mann mit schwarzgeränderter Brille den Kopf zur Tür herein. Ob er eintreten dürfe. So höflich hatte schon lange niemand mehr zu mir gesprochen. Ich sprang auf. Dunkle, traurige Augen musterten mich freundlich durch dicke Brillengläser. Das schwarze, gewellte Haar über der auffallend hohen Stirn dieses Mannes war schon ziemlich gelichtet.
„Du bist also der Adib“, stellte er fest. Ich nickte unsicher.
„Keine Angst, Ich heiße Jafar Ponyandeh. Ich werde dir helfen und dich, solange du hier bist, beschützen. Besitzt du ein Foto von dir?“ Eine seltsame Frage. Ich schüttelte den Kopf.
„Dann müssen wir eins machen“, sagte er, zog die Tür hinter sich zu und erst jetzt fiel mir auf, dass eine Kamera an seiner Seite baumelte. So eine Kamera hatte auch mein Vater besessen, und auch er hatte die immer an so einem Riemen über seiner Schulter hängen gehabt, wenn wir zusammen einen Ausflug gemacht hatten. Mein ‚Beschützer‘ bat mich, mich vor die weiße Wand zu stellen und machte mehrere Fotos von mir, wobei er mit der Kamera jedes Mal näher an mein Gesicht herankam.
„Du brauchst einen Ausweis, um sicher durch dieses Land zu kommen. Und dazu brauchen wir dieses Foto“, erklärte er mir, während er geschäftig mit der Kamera hantierte. Das also hatte der Dicke mit dem Schnauzer mit den ‚Papieren‘ gemeint, von denen er bei meiner Ankunft gesprochen hatte. Und dann erinnerte ich mich, dass ja auch in den geflüsterten Diskussionen von Tante Khosala und Onkel Najib von Papieren die Rede gewesen war.
„Spätestens in drei Tagen wird dich hier jemand abholen“, sagte der seltsame Herr Ponyandeh, als er fertig war. „Und ab da wirst du dich Reza Aslan nennen, aus der Stadt Gonabad, der Stadt des Safrans. Am besten, du prägst dir diese Namen jetzt schon mal ein.“ Damit verbeugte er sich vor mir – einem Jungen! – und verschwand so schnell durch die Tür, wie er erschienen war.
Die folgenden Tage verbrachte ich in wachsender Ungeduld. Ich vertraute diesem Herrn Ponyandeh. Schon weil er mich irgendwie an meinen Vater erinnert hatte. Jetzt, wo ich wusste, dass es jemanden wie ihn gab, der mir helfen wollte, sicher durch dieses Land zu kommen, hoffte ich, dass es so schnell wie möglich weiterging. Dabei hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Anders als in Herat war ich in meinem Zimmer nicht eingesperrt. Jederzeit konnte ich hinunter ins untere Stockwerk laufen. In den Waschraum etwa oder, lieber noch, in die große Küche, in der für alle auf dem Gelände gekocht wurde. Inzwischen nannten die Frauen dort unten mich schon ihren kleinen Jungen, wofür ich sie als Mann eigentlich hätte zurechtweisen müssen. Aber sie steckten mir auch immer mal wieder extra etwas zu essen zu. Nur außerhalb des Hauses sollte ich mich nicht sehen lassen, hieß es. Besuchern von draußen würde es auffallen, wenn hier ein Junge wie ich einfach nur so herumliefe.
Natürlich hielt ich auch immer mal wieder Ausschau nach Abdul – aus meinem Fenster oder unten an der Tür. Ich wusste inzwischen, wenn es abends dunkel wurde, wurden die Jungen und Mädchen getrennt und in Gruppen von ihren Aufsehern in das separate Gebäude gebracht, in dem, wie es hieß, ihre Schlafsäle lagen. Selbst aus der Entfernung konnte man sehen, wie erschöpft und schmutzig sie waren. Meinen Freund Abdul aber habe ich nie wiedergesehen.
Der junge Mann, der mich abholte, hieß Shahin und sagte, er sei Student. Als erstes aber, kaum hatte ich mich zu ihm in den alten Peugeot gesetzt, reichte er mir meine ‚Papiere‘.
„Hier, Reza Aslan, dein Schenasnameh“, sagte er. Ich schlug das kleine, dünne Heftchen auf. Da, auf der ersten Seite, prangte tatsächlich mein Foto.
„Hast du noch nie einen Ausweis gesehen?“, fragte er und lachte. Er lachte ständig. Auch als ich ihn fragte, ob er der Sohn des Fotografen wäre.
„Du meinst Dr. Ponyandeh? Der war mein Lehrer an der Universität, an der ich Wirtschaftswissenschaften studiere. Jetzt ist er mein Mentor und Freund. Von irgendwas muss er ja leben, jetzt, wo die Taliban dafür gesorgt haben, dass er seine Stelle an der Uni verloren hat.“
„Die Taliban? Hier im Iran?“ Ich war geschockt. Auch weil ich noch nie erlebt hatte, dass jemand über die Taliban lachte.
„Sorry“, sagte er – das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich wieder ein englisches Wort hörte. „Du kommst ja von denen. Keine Angst, wir nennen unsere korrupten Mullahs so.“
„Ich komme nicht von den Taliban. Ich komme aus Kabul“, protestierte ich.
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