1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 „Schon gut“, lachte er. „Ist mir auch egal, warum du da wegwillst. Hier wollen ja auch alle weg.“
Die gut ausgebaute, meist schnurgerade Straße führte durch eine karge, ausgedörrte Landschaft. Nur hin und wieder kamen wir durch kleinere Ortschaften. Ich war ein wenig durcheinander. Dass die Schiiten Ungläubige waren, sagten die Sunniten in meiner Heimat ja immer. Aber dass die hier so abfällig über ihre eigenen Mullahs redeten, hätte ich mir bis dahin nie vorstellen können.
„Falls die uns anhalten sollten und nach unseren Papieren fragen, halt bloß den Mund und lass mich reden“, sagte Shahin, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. „Sonst hören die an deiner komischen Aussprache gleich, dass du nicht von hier bist. Also pass auf: Ich bin dein großer Bruder, du bist hier nur auf Besuch, weil du unbedingt mal den Imam Reza Schrein besuchen willst. Und zwar, weil das deine letzte Hoffnung ist, dein Stottern zu kurieren.“
Wieder wollte ich protestieren, aber Shahin winkte ab.
„Vertrau mir. Diese kleine Lügengeschichte ist nur zu deinem Schutz. In letzter Zeit gibt es immer öfter Demonstrationen in Maschhad wegen der steigenden Preise für Lebensmittel. Seitdem sind die da oben nervös und es gibt mehr Kontrollen als sonst. Und glaub mir, wenn du denen in die Hände fällst, hast du nichts mehr zu lachen.“
Bald wurde die Straße vierspurig, als wir uns Maschhad näherten, sogar zu einem richtigen sechsspurigen Highway – wie in den amerikanischen Filmen. Ich traute meinen Augen nicht: Plötzlich tauchte rechterhand direkt neben uns ein riesiges Flugzeug auf. Ich dachte schon, es würde auf die Häuser am Rande der Autobahn stürzen, aber dann verschwand es direkt hinter einem großen, flachen Gebäude. Shahin lachte, als ich aufgeregt hinüberzeigte. Er stellte die CD ab, die er die ganze Zeit hatte laufen lassen. „Unser Flughafen“, sagte er. Er erklärte mir, dass jedes Jahr mehrere Millionen Pilger nach Maschhad kämen, um den Imam Reza Schrein zu besuchen. Zum ersten Mal schien er auf irgendetwas in seinem Land stolz zu sein. Ich aber war nur froh, dass das Gebrüll des CD-Spielers verstummt war, das Shahin ‚Heavy Metal‘ nannte. Sowas hatte ich vorher noch nie gehört. Kurz danach kurvten wir durch ein ganzes Gewirr von Straßen neben- und übereinander. Gleich dahinter zeigte Shahin wieder auf die rechte Seite. „Unser großer Fernbusbahnhof – da setzen wir dich morgen in den Bus nach Teheran.“
Es kann nicht mehr als zehn Minuten später gewesen sein, als wir von der Stadtautobahn abfuhren und in ein Viertel mit dicht an dicht stehenden Wohnhäusern einbogen. Die waren alle nicht mehr als vier oder fünf Stockwerke hoch und sahen ziemlich neu aus. Gleich darauf hielten wir vor einem dieser Häuser. Sobald Shahin auf einen der Klingelknöpfe gedrückt hatte, gab es ein summendes Geräusch und er drückte die Tür auf.
„Sie haben Farhad verhaftet“, sagte Dr. Ponyandeh, kaum hatte er uns oben die Wohnungstür geöffnet.
Eigentlich hatte Shahin mich nur abliefern wollen, aber nach dieser offenbar sehr schlimmen Nachricht folgte er uns doch mit in die Wohnung. Sein ehemaliger Lehrer, der jetzt sein Freund war, führte uns in ein großes Zimmer mit hohen Regalen voller Bücher an den Wänden und einem Sofa und mehreren Sesseln in der Mitte des Raums. Er und Shahin liefen gleich zum Fenster hinüber und redeten aufgeregt miteinander.
Eine Zeit lang stand ich herum. Die beiden waren so vertieft, dass sie mich gar nicht beachteten. Da habe ich mich in einen der riesigen, weichen Sessel gesetzt und meinen Rucksack einfach daneben auf den Teppich fallen lassen.
Ich verstand nicht alles von dem, was sie sagten. Dieser Farhad aber war offenbar jemand von ihrer Universität. Der hatte auf der Straße Zettel verteilt – aus Protest gegen die ‚Zwangsverschleierung‘, wie Dr. Ponyandeh sagte. Dieses Wort verstand ich erst, als sie auch noch von ‚Kopftuchzwang‘ sprachen. Das schien alles sehr schlimm zu sein.
Ich wusste damals so vieles noch nicht. Die Frauen im Iran – die in der Küche der Ziegelei und die wenigen, die ich auf dem letzten Teil unserer Fahrt auf der Straße gesehen hatte – waren mir sehr freizügig vorgekommen in ihrer leichten Kleidung und mit ihren bunten Kopftüchern. Ich hatte vor meiner Flucht längere Zeit fast nur noch Frauen in Burka gesehen. Aber dann fiel mir ein, dass meine Tanten so gut wie nie ein Kopftuch getragen hatten. Wie überhaupt viele Frauen in Kabul. Und auch kaum eins der Mädchen aus Babas Schule. Für meine Tante Khosala, auch daran erinnerte ich mich jetzt wieder, hatte das auch etwas mit Freiheit zu tun gehabt. Hier aber schien das Kopftuch seltsamerweise etwas mit öffentlicher Sicherheit zu tun zu haben.
„Wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit?“ Shahin fragte extra noch einmal nach.
„Ja, deswegen und wegen Beleidigung des Kopftuchs als Symbol des Islam“, sagte Dr. Ponyandeh und schüttelte den Kopf.
„Wir müssen etwas unternehmen“, rief Shahin.
„Dir ist klar, wie gefährlich das ist“, sagte Dr. Ponyandeh.
„Ich bin sicher, viele werden sich anschließen. Jetzt, wo sich die Leute selbst einfache Lebensmittel kaum noch leisten können. Sogar auf dem Land. Alle haben doch diese Mullah-Diktatur satt. Die Misswirtschaft, die Korruption, die brutale Unterdrückung jeder Kritik.“ Shahin redete sich immer mehr in Rage. Dabei fiel sein Blick plötzlich auf mich. „Ach, um den Jungen müssen wir uns ja auch noch kümmern. Ich fürchte, ihn schon morgen in den Bus nach Teheran zu setze, wäre in dieser Situation kaum zu verantworten. Die werden die Kontrollen in den nächsten Tagen mit Sicherheit nochmal verschärfen.“ Dr. Ponyandeh überlegte kurz. Dann nickte er.
So kam es, dass ich fast vier Tage lang in der schönen großen Wohnung meines iranischen ‚Beschützers‘ gewohnt habe und sogar schon wieder in einem richtigen Bett schlafen durfte.
Gleich nachdem Shahin sich verabschiedet hatte, verließ auch mein Beschützer die Wohnung, in der er offenbar ganz allein lebte. Er werde nicht lange fortbleiben, sagte er. Ich solle auf keinen Fall vor die Tür gehen. Die Nachbarn seien sehr neugierig.
So setzte ich mich erst mal wieder in den großen Sessel, neben dem noch mein Rucksack lag. Als es mir zu langweilig wurde, ging ich zu den Regalen hinüber. Ich staunte, wie viele der Bücher auf Englisch waren. Die meisten Titel verstand ich nicht, aber immer wieder kamen die Wörter ‚Economy‘ und ‚History‘ vor. Dieser Lehrer und Fotograf musste ein sehr kluger Mann sein. In einem der Regale stieß ich schließlich auf Bücher, deren Titel mir vertraut waren. Das Shahnameh mit den Geschichten von den alten persischen Helden, das Diwan-e Hafez von Hafis und von Maulana Rumi das Masnavi und seine vierzeiligen Rubaiyat. Ich zögerte, aber dann zog ich die Rubaiyat aus dem Regal. Damit setzte ich mich auf den Teppich und vertiefte mich in das Buch. Es war, als wäre ich auf einmal wieder Adib, der Schüler aus der 8. Klasse, und säße zu Hause im Zimmer meines Großvaters.
„Du kannst diese Gedichte lesen?“ Ich schrak zusammen, als ich plötzlich die Stimme von Dr. Ponyandeh hinter mir hörte. Die traurigen Augen hinter den dicken Brillengläsern blickten verwundert auf mich herab.
„Viele kenne ich auswendig“, sagte ich.
„Weißt du, dass das eine kostbare alte Ausgabe dieser Gedichte ist, die du da in der Hand hast?“ Kurz krampfte sich alles in mir zusammen.
„Mein Großvater hatte eine, die noch viel älter war“, sagte ich.
„Hatte? Er hat sie doch nicht etwa verkaufen müssen? Womöglich, um damit deine Flucht zu finanzieren?“
„Oh, nein“, stotterte ich. Ich merkte, wie ich rot wurde.
„Na, das wäre ja auch ein Jammer gewesen“, sagte Dr. Ponyandeh. Er ließ sich in den Sessel neben mir sinken. Er seufzte tief auf. „Ich habe viele afghanische Freunde. Die ersten sind schon vor über dreißig Jahren vor den Russen hierher geflohen. Weitere kamen vor zwanzig Jahren, nachdem die Taliban Kabul erobert hatten. Und jetzt schon wieder Jungen wie du. Hört das denn nie auf? Gab es denn niemanden, der dort für dich sorgen konnte?“
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