Von Abdul kam ein Wimmern. Hatte ich ihn etwa getreten? Wenn ich es nicht schaffte, ruhig zu bleiben, waren wir beide verloren. Ganz ruhig atmen. Ganz ruhig.
Wieder begann ich zu summen. Das hatte zuvor schon geholfen, die Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Dass wir so kurz hintereinander zum zweiten Mal standen, war das nicht geradezu der Beweis, dass wir tatsächlich soeben die Grenze passiert hatten? Nach der Kontrolle auf afghanischer Seite kam ja sicher noch eine auf der iranischen. Dschingis hatte Ware geladen. Schon die Soldaten in den Bergen hatten ja nach Papieren dazu gefragt. Hier würden sie die auf jeden Fall auch kontrollieren wollen. Ja, Dschingis und Karim waren mit solchen Papieren zum Zoll!
„Zoll, Stempel“, sagte ich laut. Abdul murmelte etwas. Er schien verstanden zu haben.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort gestanden haben, und wie oft ich im Stillen für mich das Wort Zoll wiederholt habe. Einige Male konnte man hören, wie in der Nähe Männer in schweren Stiefeln vorbeiliefen, wie Motoren angelassen wurden und wie Laster davonfuhren. Jedes Mal wurde meine Hoffnung enttäuscht, dass es Dschingis und Karim wären, deren Schritte sich näherten, und dass endlich auch wir einfach so davonfahren würden. Mit jeder Enttäuschung kam die Angst stärker zurück. Die wussten doch, dass sie uns hier eingesperrt hatten. Dass wir hier drin nicht mehr lange überleben konnten. Wenn sie immer noch nicht kamen, hatte man sie womöglich tatsächlich verhaftet. Nicht mal eine Flasche Wasser hatten sie uns mit in den Sarg gegeben. Wasser! Verzweifelt biss ich mir in die Faust.
Und wieder: Sich nähernde Schritte, Stimmen von Männern. Ganz nahe liefen die auf meiner Seite vorbei. Das waren eindeutig mehr als zwei Männer, aber die tiefe Stimme von Dschingis Khan hatte ich nicht herausgehört. Also wieder nichts…
Da aber blieben sie stehen. Offenbar direkt hinter unserem Laster. Das Poltern der Ladeklappe.
Die waren gekommen, den Laderaum zu durchsuchen! Hatten sie Karim oder gar Dschingis etwa dazu gebracht, unser Versteck zu verraten? So oder so, wenn sie den Laderaum ernsthaft durchsuchten, würden sie uns hier mit Sicherheit finden.
Ein Wimmern! Abdul hatte vielleicht gerade das Gleiche gedacht. Am Ende würde womöglich er uns verraten.
Ganz vorsichtig tippte ich ihn mit dem Fuß an. Er drückte zurück. Soweit hatte er sich also noch unter Kontrolle.
Jetzt musste die Erschütterung kommen, die man spürt, wenn ein Mann sich auf die Ladefläche heraufschwingt. Das Kratzen oder Poltern schwerer Stiefel auf Blech oder Holz. Worauf warteten die?
Dann, plötzlich, ein dröhnendes Lachen. Nur einen hatte ich je so lachen gehört: Dschingis!
Dann eine fremde Stimme: „Alles in Ordnung“, auf Farsi! Die Ladeklappe wurde wieder verriegelt.
Unwillkürlich atmete ich so tief ein, wie es ging. Als ich den Staub schmeckte, war es zu spät. Mit aller Gewalt versuchte ich, ein Niesen zu unterdrücken. Mir platzte beinahe der Kopf. Ich wäre erstickt, wenn nicht doch noch dieses Prusten herausgeplatzt wäre. Im gleichen Moment schlug eine Tür im Führerhaus zu. Auch die zweite. Jemand rief etwas und dann spürte ich das Vibrieren des startenden Motors. Wir fuhren…
Gleich würden sie anhalten und uns aus unserem finsteren Sarg befreien.
Aber die hielten einfach nicht an. Wir fuhren und fuhren. Der Motor dröhnte, oder war es mein Kopf? Ich spürte meinen Körper nicht mehr. Da war auch kein Durst. Die Wände unseres Sargs schienen sich verflüchtigt zu haben. Es war, als versänke ich in einem Meer aus aufwallender Dunkelheit. Fühlte es sich so an, zu sterben? Mein Herz raste. Meine Faust presste gegen mein Gesicht. Mir war, als hätte ich laut geschrien.
Iran
Ich spürte eine Hand an meinem Hinterkopf. Jemand hielt mir eine Flasche an den Mund, „Trink“, sagte eine Stimme. Ich begann, gierig zu schlucken. Ich musste husten und riss meine Augen auf. Ganz nah vor mir lachte Karims Gesicht. „Wir haben’s geschafft.“ Sie hatten mich gegen einen der Säcke gelehnt. Hinten saß Abdul blass und apathisch auf dem geschlossenen Sarg. Ein Laster fuhr in hohem Tempo dicht an uns vorbei. Die Plane am Einstieg wurde kurz zur Seite geweht, so dass für einen Moment blendendes Licht in den Laderaum fiel. „Wir müssen weiter“, rief Dschingis von draußen.
. . .
„Unglaublich, was unser Junge da durchgemacht hat“, hat Martina gesagt und hat die schwarze Mappe auf die Sessellehne sinken lassen. „Und wie lebendig er das alles beschreibt…“
„Ich bin sicher, da hat ihm Samira kräftig geholfen. Er wird seine Erlebnisse einfach kurz geschildert haben und sie hat dann eine ausformulierte Geschichte daraus gemacht. Das beweisen ja allein schon der Wortschatz und die korrekte Grammatik. Manches habe ich allerdings nicht so ganz verstanden. An der einen Stelle zum Beispiel schreibt er etwas von seiner ‚Zeit in den Bergen‘. Ich dachte immer, er hätte die ganze Zeit in Kabul gelebt.“
“Was ich noch viel weniger verstehe: Warum haben ihn seine Tante und deren Mann so einfach davongejagt? Seine Eltern sind, wie wir wissen verstorben. Aber es gibt ja noch diesen Großvater, an dem er offenbar sehr hängt. Und von Vaterseite gibt es anscheinend doch auch noch Verwandte. Warum hat ihn keiner von denen aufgenommen?“
„Wir sind ja erst am Anfang. Vielleicht wird das ja alles später noch klarer. Und jetzt lass mich weiter vorlesen.“ Ich habe Martina die schwarze Mappe aus der Hand genommen und habe mich auf dem Sofa ausgestreckt.
. . .
„Wo sind wir hier?“, fragte ich, als ich hinter Abdul aus dem Laderaum kletterte.
„Kurz vor Taybad“, antwortete Karim. „Hier fallt ihr nicht weiter auf, solange ihr auf dem Gelände der Ziegelei bleibt.“ Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Er hatte offenbar bemerkt, dass mein Blick beim Herunterklettern an dem offenen Karton hängengeblieben war, der so auffällig ganz vorn an der Ladefläche stand. „Damit haben wir euch sicher über die Grenze gebracht“, erklärte er. Ich sah ihn verständnislos an. „Safran. Eine der Dosen da drin kostet mehr, als ein iranischer Grenzbeamter in einem ganzen Monat verdient. Und für euch haben wir sogar zwei davon opfern müssen.“
„Sind etwa alle diese Kartons voll mit so teuren Dosen?“, fragte ich.
„Glaub‘ nicht, dass wir mit dieser Ladung reich werden können. Als Afghanen können wir die hier im Iran nur weit unter Marktpreis losschlagen – und Zoll haben wir auch noch dafür bezahlt.“
„Und die Säcke?“, fragte ich.
„Rosinen und getrocknete Aprikosen. Praktisch, um blinde Passagiere darunter zu verstecken. Aber so billig hier im Iran, dass uns keiner glauben würde, dass wir extra dafür die Reise über die Grenze machen. Und jetzt macht, dass ihr da rüberkommt. Und sagt, dass ihr von Kadér seid.“
Hungrig, durstig und immer noch unsicher auf den Beinen nach unserer stundenlangen Gefangenschaft in der Holzkiste liefen Abdul und ich mechanisch auf die Lücke in der niedrigen Mauer zu, auf die Karim gezeigt hatte. Auf halbem Wege blickte ich noch einmal zurück. Karim schwang sich gerade auf seinen Sitz hinauf. Er schlug die Tür des Führerhauses zu, und der Laster, der zehn Tage lang mein Zuhause gewesen war, setzte sich sofort in Bewegung. Karim hat sich nicht einmal mehr nach mir umgedreht.
Durch die Mauer gelangten wir auf ein weites Gelände, das sich bis zum Fuß eines langgezogenen Hügels erstreckte. Nicht weit von uns war eine große quadratische Fläche mit in dichten Reihen zum Trocknen senkrecht aufgestellten Lehmziegeln bedeckt. Daneben hatte etwa ein Dutzend Kinder begonnen, ein weiteres solches Quadrat mit Ziegeln zu füllen. Die schleppten sie von einem weiter entfernt liegenden Platz an, an dem andere Kinder damit beschäftigt waren, frischen Lehm in hölzerne Formen zu pressen. Der Lehm wiederum wurde von etwas größeren Jungs in Schubkarren vom Fuß des Hügels im Hintergrund herangekarrt. Kaum hatten wir uns so weit orientiert, als schon ein großer, hagerer Kerl, der offenbar die Arbeiten überwachte, auf uns zukam.
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