C. D. Gerion
Das Buch der Bücher
Ein Flüchtlingsroman
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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Roman enthält darüber hinaus zahlreiche Bezüge zu realen gegenwärtigen und historischen Ereignissen und Gegebenheiten.
Sei die Rose noch so voller Dornen,
so ist sie es doch wert, gehegt zu werden
- um der Liebe willen.
Sei die Geschichte noch so voller Schmerz,
so ist sie es doch wert, aufgezeichnet zu werden
- um der Wahrheit willen.
Samira
Inhaltsverzeichnis:
Erstes Buch – Flucht
Zweites Buch – Ankommen
Drittes Buch – Traumata
Viertes Buch – Die Rettung
Fünftes Buch – Das Ende (Epilog)
Erstes Buch – Flucht
Jetzt, wo die Geschichte doch noch ein so tragisches Ende gefunden hat, kommen wir nicht darum herum, alles noch einmal hervorzuholen. All das, was wir schon einmal zusammengestellt hatten, vor einem Dreivierteljahr, als wir sicher waren, es wäre geschafft.
Jetzt nämlich müssen wir ein weiteres Kapitel hinzufügen zu den Aufzeichnungen, Protokollen und Tagebucheinträgen aus unseren ersten anderthalb Jahren mit Adib. Es gilt vorbereitet zu sein für den Fall, dass man uns doch noch einmal kritische Fragen stellt. Wir wollen aber auch Klarheit für uns selbst, damit diese Geschichte uns nicht auf Dauer in unseren Alpträumen heimsucht, so wie seine Geschichte unseren Adib. Und möglicherweise werden auch unsere Kinder eines Tages genau wissen wollen, wie es dazu kommen konnte, dass dieses Abenteuer ihrer Eltern so endete.
An den Anfang gehören die Aufzeichnungen, die uns der Junge an einem Tag überreicht hat, an dem wir alle noch voller Optimismus gewesen sind – am Morgen seines achtzehnten Geburtstags.
MEINE FLUCHTGESCHICHTE
– Für Mama Martina und Papa Mitch –
So steht es vorne auf dem weißen Aufkleber, eigenhändig geschrieben von unserem Jungen, in sorgfältig ausgemalten Buchstaben. Die mehr als hundert Seiten in dem schwarzen Hefter sind eng bedruckt in Kursivschrift – so, als müssten sich die Buchstaben anlehnen und die Sätze Halt suchen aneinander.
Ich weiß noch, wie Martina gestaunt hat. „Das ist ja ein ganzes Buch.“
Heute wissen wir, dass es vor allem sein schlechtes Gewissen war, das den Jungen dazu gebracht hat, die Geschichte seiner Flucht aufzuschreiben – extra für uns. Schlechtes Gewissen, weil er es nicht vermocht hat, uns die eigentliche Geschichte anzuvertrauen. Wir haben diese Seiten damals also zur Kenntnis genommen, ohne den Schlüssel zu ihrem vollen Verständnis zu haben.
Sobald der Junge zur Haustür raus war, haben wir es uns in unserer Sitzecke bequem gemacht, um uns sein ‚Buch‘ abwechselnd vorzulesen.
„Du zuerst.“ Ich habe Martina den schwarzen Hefter über den Tisch geschoben. Adib war ja zuallererst ihr Junge.
Martina hat auf das schwarze Cover hinuntergesehen, als würde sie sich fürchten vor dem, was auf den Seiten dahinter zu lesen sein würde.
„Nein, du zuerst. Schließlich ist er auch dein Junge.“
„Nein, du zuerst – er hat dich ja im Untertitel an erster Stelle genannt.“
„Okay“, Martina hat einmal tief durchgeatmet. „Aber dann unterbrich mich nicht dauernd.“
. . .
Kabul, Afghanistan
Mir blutet das Herz. Immer wieder, wenn ich nur daran denke. „Du darfst unter keinen Umständen wiederkommen“, hat Tante Khosala gesagt. „Niemals. Und nimm auch nie wieder Kontakt zu uns auf.“ Tante Khosala, Trost meiner Kindheit, letzte Zuflucht in tiefster Not, Tante Khosala hat mich über die Schwelle geschoben und fortgescheucht wie einen bösen Traum. Alle meine Sachen hat sie verbrannt. Meine struppigen Haare hat sie geschoren. Am Ende hat sie mir auch noch eine Baseball-Kappe tief ins Gesicht gedrückt, damit mich auch ja keiner erkennt. Damals habe ich nicht verstanden, wie sie so grausam sein konnte.
Es wurde schon dunkel. Ich musste so schnell wie möglich einen Winkel finden, in dem ich mich für die Nacht verkriechen konnte. Erst am Morgen, um sieben Uhr spätestens, musste ich an der Asmayi Road stehen, am großen Kreisverkehr, an dem auch die Darul Aman in Richtung Nationalmuseum abgeht. Ich aber musste an der Ausfahrt Richtung Westen warten. Ein Lastwagen mit Nummernschild aus Herat würde mich aufnehmen, hatten sie gesagt. Es begann zu nieseln. Die neuen Schuhe drückten, die steifen Jeans scheuerten auf der Haut, die Gurte des schweren Rucksacks schnitten mir in die Schultern. Mir fiel nur ein einziger Ort in der Nähe ein, an dem ich – mit etwas Glück – niemandem auffallen würde. Zitternd drückte ich mich in die Lücke zwischen der Mauer um den Innenhof der Moschee und dem rissigen Stamm des alten Maulbeerbaums. Damals, im letzten Sommer meiner Kindheit, hatte das dichte Laub dieses Baums meinem Vetter Xatar perfekten Sichtschutz geboten. Jetzt aber – im März – war das frische Grün noch nicht dicht genug. So blieb mir nur der enge, feuchte Winkel auf dem Boden hinter dem Stamm, damit mich niemand bemerkte.
In nicht einmal zwanzig Minuten hätte ich von diesem Versteck aus an den Stätten meiner Kindheit sein können. Hätte hinauflaufen können in den fünften Stock und mit klopfendem Herzen vor unserer Wohnungstür gestanden. Hätte laut „Hallo, ich bin wieder da…“ rufen können. Aber Großvater wäre nicht da gewesen, um mir die Tür zu öffnen. Auch zum Block VI hätte ich hinüberlaufen können, um noch einmal hinaufzusehen zu den Fenstern im dritten Stock. Das aber hätte mir das Herz zerrissen. Auch an meiner alten Schule wäre ich schnell gewesen, aber man hätte mich dort nicht mehr eingelassen. Außerdem gab es ja auch noch den Militärposten direkt gegenüber dem Schultor. Ohnehin hätte mich in dieser Schule niemand mehr als den ‚Kleinen von unserer Zohra‘ begrüßt. Selbst an den Namen meiner Mutter hätten sich die wenigen dort, die sie noch kannten, inzwischen sicher kaum noch erinnert. Nein, meine Kindheit war endgültig tot und begraben. Es war sinnlos, sich an eine Welt zu klammern, die es gar nicht mehr gab. Alles was es gab, war ein Ziel, das ich nicht kannte. Aber ein Ziel immerhin. Wer ein Ziel hat, hat auch wieder Grund, etwas zu hoffen, selbst wenn es nur die Hoffnung auf eine Ankunft irgendwo ist.
Ja, ich musste alles hinter mir lassen und nur noch nach vorne schauen. Das war ich schließlich auch meiner Tante Khosala schuldig. Trotz allem hatte ich es nur ihr zu verdanken, dass es noch einmal so etwas wie eine Hoffnung gab. Najib, ihr Mann, hatte mich schon an der Haustür davonjagen wollen. „Aber sieh dir den Jungen doch einmal an“, hatte Tante Khosala gerufen. „Und jetzt, im Dunkeln, hat ihn bestimmt auch keiner gesehen.“ Damit hatte sie Onkel Najib beiseitegeschoben, mich ins Haus gezogen und schnell die Tür zugeworfen. Da war ich zusammengebrochen.
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