1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 So hatte schon lange niemand mehr mit mir geredet. Ich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten. Aber dann war es, als bräche ein Damm. Ich erzählte meinem Beschützer, dass meine Eltern beide gestorben waren. Dass ich nicht wusste, wo mein Großvater war und ob er noch lebte. Dass meine Lieblingstante mich einfach so fortgeschickt hatte. Obwohl ich das gar nicht wollte, habe ich einfach immer weitererzählt. Am Ende kannte er fast meine ganze Geschichte. Er hat mir die ganze Zeit zugehört, ohne etwas zu sagen. Auch danach hat er mir keinerlei Vorwürfe gemacht.
„Du musst fest daran glauben, dass alles gut werden wird“, sagte er nur und legte mir dabei seine Hand auf die Schulter.
Auch in den nächsten Tagen musste Dr. Ponyandeh oft aus dem Haus. Ständig hatte er irgendwelche Treffen, und einmal musste er auch Fotos von einer Hochzeit machen. Aber wenn er zu Hause war, nahm er sich immer auch Zeit, sich mit mir zu unterhalten. Dabei sagte er manchmal auch Sachen, die ich nicht so richtig verstand. Dass die islamische Regierung eigentlich gar nicht islamisch sei, zum Beispiel, oder dass die Mullahs den Koran für politische Ziele missbrauchten. Als ich ihm sagte, dass ich viele Verse des Koran auswendig gelernt hatte, fragte er, ob ich denn auch wüsste, was die arabischen Wörter bedeuteten. Das haben sie mir nicht beigebracht, gab ich zu.
„Wer die Menschen Worte auswendig lernen lässt, ohne ihnen deren Bedeutung zu erklären, der verhöhnt das größte Geschenk, das Allah dem Menschen gegeben hat, den Verstand“, erklärte er. Da habe ich ihm gesagt, dass auch mein Vater und mein Großvater immer so über „die Bärtigen“ gesprochen hätten. Da nickte er mir zu.
„Sogar das Wahrhaftigste und Weiseste, was der Islam jemals hervorgebracht hat, wollen sie auslöschen.“ Als ich ihn fragend ansah, meinte er nur, ich solle mir den Namen merken, der als mein Geburtsort in meinem iranischen Ausweispapier stehe: Gonabad. Für später, wenn ich in Sicherheit sei und wieder lernen könne. Denn das sei das Wichtigste: Ein Leben lang zu lernen und nach der Wahrheit zu suchen.
Immerhin verstand ich durch diese Gespräche auch das Persisch meines Beschützers immer besser. In den letzten anderthalb Tagen brachte er mir gezielt auch noch die richtige Aussprache einiger nützlicher Worte und Sätze bei. Zu meiner Sicherheit, wie er sagte. So werde man nicht sofort hören, dass ich aus Afghanistan käme, wenn ich in eine Polizeikontrolle geriete. Er und Shahin befürchteten nämlich inzwischen, dass sich die Lage nun doch nicht so schnell wieder beruhigen würde. Es sei daher besser, meine Fahrt nach Teheran nicht noch länger hinauszuschieben.
Spätabends am zweiten Tag war Shahin nochmal vorbeigekommen. Er hatte seinem Lehrer Bilder von einer ‚Demonstration‘ zeigen wollen, an der er an dem Nachmittag teilgenommen hatte.
„Habe ich‘s dir nicht gesagt? Die schrecken vor nichts zurück“, hatte Dr. Ponyandeh festgestellt, nachdem er eine Weile schweigend auf den kleinen Bildschirm geschaut hatte, den Shahin ‚Smartphone‘ nannte.
„Sieh dir das an, Reza aus Gonabad, so brutal ist dieses Mullah-Regime hier bei uns.“ Damit hatte Shahin auch mir diesen Bildschirm hingehalten. Da war ein großer Platz voller Menschen zu sehen. Die hielten Schilder hoch und riefen etwas im Chor. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht. Eine junge Frau hielt ein Schild hoch, auf dem stand „Marg bar Taliban“, „Tod den Taliban“! Was die Leute riefen, verstand ich erst, als ich genauer hinhörte: „Die Menschen betteln, die Mullahs herrschen wie Götter.“ Und plötzlich tauchten Männer mit Helmen auf und begannen, mit langen Stangen wahllos auf die Menschen einzuschlagen. Alle liefen durcheinander, manche stürzten und die Männer mit den Helmen traten sie auch noch mit ihren Stiefeln. Die machten selbst vor den Frauen nicht halt. Die Bilder wurden immer wackeliger und dann wurde der Bildschirm dunkel.
„Ich fürchte, das ist nur der Anfang“, hatte Dr. Ponyandeh gemeint. „Es wird wieder Massenverhaftungen geben.“
„Am besten, ich bringe ihn übermorgen, wenn die erste Welle vorbei ist, ganz früh an den Busbahnhof. Ich schätze, bei dem Gewimmel dort um die Zeit können die höchstens Stichprobenkontrollen durchführen,“ hatte Shahin gesagt.
Ich hatte zunächst gar nicht verstanden, dass es dabei um mich ging.
Die Fahrt von Maschhad bis nach Teheran kam mir unendlich lang vor. Dabei kam ich so schnell voran, wie noch nie, seit ich Kabul verlassen hatte. Der Bus war ganz früh am Morgen pünktlich abgefahren und spät in der Nacht fuhren wir in den Busbahnhof in Teheran ein.
Am Anfang der Fahrt hatte ich gestaunt, wie modern und sauber der Bus war und wie bequem die Sitze. Man konnte sogar die Rückenlehne nach hinten kippen. Shahid hatte mir einen Sitzplatz am Fenster in der Mitte des Buses besorgt. So würde ich am wenigsten auffallen, hatte er gemeint.
Ich habe fast die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Auch das hatte Shahid mir empfohlen, damit möglichst keiner auf die Idee käme, mich anzusprechen. Am Anfang fand ich es auch interessant, dort draußen die weiten, wechselnden Landschaften und das Treiben in den Dörfern und Städten, durch die wir fuhren, vorüberziehen zu sehen. Die glatt geteerten Straßen, die vielen neuen und hohen Gebäude, die Geschäfte und sogar die Menschen, alles erschien mir ordentlicher, moderner, und bunter als in Afghanistan. Auf die Dauer aber wurde es langweilig und mir fielen immer wieder die Augen zu.
Meist wachte ich dann erst wieder auf, wenn der Bus an einer Tankstelle oder an einem Busbahnhof hielt. Dann stiegen immer alle aus, um sich die Beine zu vertreten, auf die sauberen Toiletten zu gehen, die es fast überall gab, oder sich etwas zu trinken oder zu essen zu kaufen.
Dr. Ponyandeh hatte mir am Morgen zwei Flaschen Wasser, eine Tüte mit Sonnenblumenkernen und ein paar iranische Geldscheine mitgegeben. Das Geld hatte ich erst gar nicht annehmen wollen. „Für den Notfall“, hatte er gesagt und dabei wieder so traurig gelächelt. Da hatte ich die Scheine doch eingesteckt und mir vorgenommen, sie tatsächlich für den Notfall aufzubewahren. Aber als wir – da war es schon Nachmittag – an einem größeren Busbahnhof hielten und ich die Stände der vielen Händler sah, die dort duftende Aprikosen, Orangen und Mangos, verlockende Fleischspießchen, süßes Gebäck und buntes Zuckerwerk anboten, konnte ich nicht widerstehen. Ich habe mir zum allerersten Mal seit der Abfahrt aus Kabul selber etwas zum Essen gekauft.
Auch Tante Khosala hatte mir Geld mitgegeben, dreihundert amerikanische Dollar, die sie mir separat in kleine Plastiktüten eingeschlagen und an drei verschiedenen Stellen versteckt hatte: Im Boden meines Rucksacks, im Gürtel meiner Hose, den sie dafür extra aufgetrennt und wieder zugenäht hatte, sowie in einem Ledertäschchen, das ich unter meinem Hemd an einer Schnur um den Hals trug. Dieses Geld wollte ich aber auf diesem Abschnitt der Reise noch auf keinen Fall anrühren. Es war für den letzten Teil meiner Flucht gedacht, auf dem ich mich ganz alleine würde durchschlagen müssen.
Als ich mit meinen Hühnerfleischspießchen in den Bus zurückkam, fand ich zuerst meinen Platz gar nicht wieder. Die ganze Zeit hatte ein alter Mann auf dem Gangplatz neben mir gesessen. Der hatte mich zu meiner Erleichterung kein einziges Mal angesprochen und die meiste Zeit auch geschlafen. Jetzt aber saß da in der Mitte des Busses ein Mädchen, und ich wollte erst gar nicht glauben, dass das da neben ihr mein Platz war. Das Mädchen – eigentlich eher schon eine junge Frau – schaute mich mit großen dunklen Augen herausfordernd an, als ich unschlüssig neben ihr stand. Ihr grellbuntes Kopftuch war so weit nach hinten geschoben, dass ihr volles Haar darunter hervorquoll. Sie trug eine Bluse, deren oberster Knopf offenstand und deren Ärmel nicht mal bis zu den Ellenbogen reichten. Ich brachte kein Wort heraus.
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