Das Ressentiment ist ein hoch komplexer psychologischer Mechanismus mit weitreichenden individual- und sozialpsychologischen Implikationen. Es eignet demjenigen, dem die eigene Identität sowie der Wert derselben zutiefst fragwürdig geworden ist – der aufgrund fortwährend scheiternder Selbstbehauptung an einem beschädigten Selbstverhältnis leidet. Es äußert sich im verzweifelten wie fehlgeleiteten Versuch, Ohnmacht in Macht und Selbstzweifel in Selbstgewissheit zu verkehren – auf Kosten des ›Anderen‹, der aufgrund der eigenen Schwäche gar nicht mehr anders denn als Bedrohung wahrgenommen werden kann. Die Feindbildkonstruktion ist die zentrale Funktion des Ressentiments, die Freund/Feind-Logik das zentrale Prinzip einer vom Ressentiment versehrten Gesellschaft.
Das Ressentiment ist eine Denk- und Gefühlsstruktur, die prädestiniert dafür scheint, von Populisten als Machttechnik instrumentalisiert zu werden. Darum ist die Auseinandersetzung mit ihm – gerade in Anbetracht der teils dramatischen Erfolge des politischen Populismus – für die in die Defensive geratende Demokratie so eminent wichtig.
Dr. ROBERT MÜLLER lebt und arbeitet als freier Autor in Erfurt. Er hat über den Nihilismusbegriff bei Nietzsche und dessen radikalen Gegensatz – Bedeutung im emphatischen Sinn – promoviert. „Vom Verlust der Bedeutungsschwere: Eine Zeitdiagnose des Nihilismus“ (2015) ist ebenfalls bei Text & Dialog erschienen.
Robert Müller
RESSENTIMENT
Wiege des Populismus
Verlag Text & Dialog
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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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ISBN 978-3-943897-48-7 (E-Book)
ISBN 978-3-943897-47-0 (Print)
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Titel Robert Müller RESSENTIMENT Wiege des Populismus Verlag Text & Dialog
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Vorwort
1. Ressentimentbildung, primär Ohnmacht, Affekthemmung, Selbstvergiftung
2. Ressentimentbildung, sekundär Entrealisierung Selbstbildstabilisierende Maßnahmen Selbstinduziertes Leiden, selbstinduzierte Ressentimentbildung Das Ressentiment als ›Zweite Natur‹
3. Ressentiment, individualpsychologisch Primat der Emotionen Leidphänomen Primat der Retrospektive Ressentiment als ›besinnungsloser‹ Zustand Primat der Negativität
4. Ressentiment, sozialpsychologisch Intrasubjektiv, intersubjektiv Mikrosoziologisch Makrosoziologisch Die überindividuellen Qualitäten des Ressentiments
5. Ressentiment als Machttechnik Mobilisierung und Modellierung von Ressentiments durch den Populismus Ressentimentale Gesellschafts(de)formationen
6. Philosophische Implikationen des Ressentiments Oder Die Geburt der europäischen Kultur aus dem Geist des Ressentiments Herrenmoral, Sklavenmoral Das asketische Ideal, der asketische Priester Die Bewahrung (und Verkleinerung) des Lebens Der Fluch der ressentimentalen Umwertung Der Segen der ressentimentalen Umwertung Ressentiment & Nihilismus
7. Kritik des Ressentiments Religion Sozietät Moral
8. Wider das Ressentiment Das Ressentiment im Anderen Das Ressentiment in mir
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Endnoten
Eine Philosophie, die nicht bei den Menschen ihrer Zeit beginnt, die nicht ihre drängenden Fragen, ihre Nöte und Ängste bedenkt, ist obsolet. Sie muss mit dem Leben der Menschen, über die und für die sie nachdenkt, intim sein. Nur dann werden spezialisierte Philosophensorgen zu Menschheitsangelegenheiten. Aktualität und Praktikabilität sollten aber nicht der alleinige Fokus der Philosophie sein – ihr Ursprung gleichwie ihr Ziel sind grundsätzlicher, vollumfänglicher. Sie darf sich nicht in den Fragwürdigkeiten ihrer je spezifischen Zeit erschöpfen – gerade in ihrem weit darüber hinaus reichenden Horizont scheinen Perspektiven, ja Antworten auf, für die das ›Tagesgeschäft‹ oft blind ist.
Emblematisch zeigt sich dies am Phänomen des Ressentiments. Das maßgeblich von Nietzsche in den philosophischen und schließlich allgemeinen Sprachgebrauch eingebrachte Theorem gilt nicht nur aus moralphilosophischer, sondern auch aus sozialpsychologischer, religionssoziologischer und politologischer Perspektive als einer der wichtigsten Beiträge zur modernen Kultur- und Geistesgeschichte. Zugleich schillert in diesem Begriff eine Tagesaktualität, die greifbarer kaum sein könnte. Heute erleben wir den politischen Aufstieg des Populismus bis ins Herz der vormals stabilen westlichen Demokratien. Das Ressentiment ist zweifelsfrei ein Aspekt in einer immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Gemengelage, der diesen Aufstieg begünstigt. Gerade darum ist es heute eminent wichtig, sich mit ihm auseinanderzusetzen – aber eben nicht verkürzt auf die Spezifika der aktuellen Inkarnationen der Populisten, sondern grundsätzlich und grundphilosophisch. Denn das Ressentiment ist keine Neuerung und der Populismus nicht seine einzige Folge. Es ist ein unheimlicher Gast, um mit Nietzsche zu reden, der wohl schon, so hartnäckig wie ungebeten, unter Menschen weilt, seit Menschen Gemeinschaften bilden. Erst von hier aus – vom umfassenden Verständnis des Ressentiments – ergibt sich ein umso klarerer Blick auf die gegenwärtige Situation.
Ressentiment und Populismus stehen in einer tiefgreifenden, wechselseitigen Beziehung. Augenscheinlich ist, wie gesellschaftlich bestehendes Ressentiment so hemmungs- wie verantwortungslos von den Populisten als Machttechnik instrumentalisiert und somit potenziert und radikalisiert wird. Bei näherer Betrachtung erweist sich umgekehrt das Ressentiment als eine Denk- und Gefühlsstruktur, die Voraussetzung und Grundbedingung für den Populismus ist und ihn wesentlich hervorbringt. Ressentiment fungiert solcherart als Wiege des Populismus. Es eignet demjenigen, dem die eigene Identität sowie der Wert derselben zutiefst fragwürdig geworden ist – angesichts tatsächlicher oder vermeintlicher Unrechtserfahrungen, Verwundungen, Erniedrigungen, und scheinbar unüberwindbarer Ohnmacht. Es äußert sich in dem verzweifelten wie fehlgeleiteten Versuch, Ohnmacht in Macht und Selbstzweifel in Selbstgewissheit zu verkehren – auf Kosten des Anderen, des Fremden, des noch Schwächeren und erst recht Machtlosen. Die Feindbildkonstruktion ist die zentrale Funktion des Ressentiments, die Freund/Feind-Logik das zentrale Prinzip der ressentimentversehrten Gesellschaft.
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