Der Ressentimentale greift zur Deutungshoheit über das, was gut und das, was schlecht beziehungsweise böse ist. Er besetzt die Positionen, die eben noch als wertvoll galten – denen er aber aufgrund der eigenen Unzulänglichkeiten nicht gerecht zu werden vermag – nun negativ, als unwert, als verwerflich. Aber eben nicht, weil diese intrinsisch schlecht oder verachtenswert wären – sondern allein aus der eigenen Ohnmacht, diese erfüllen zu können, heraus. Konsequenterweise wird das Gegenteil von dem, woran er aus seiner Ohnmacht heraus scheitert – also das, was er selbst verkörpert – nun positiv besetzt. So wird der Ressentimentale selbst derjenige, der das, was als gut, als wertvoll und erstrebenswert gilt, repräsentiert. Doch auch diese ›neuen‹ Werte und Ideale haben wiederum keinen Selbstzweck. Vielmehr dienen sie dem Ressentimentalen zur Erklärung der Überlegenheit des Anderen (der zu unredlichen, schmutzigen Mitteln greift und allein deswegen überlegen ist) und der eigenen Unterlegenheit (weil man selbst redlich ist und sich die schmutzigen Mittel verkneift); und zugleich zur Umkehrung des Kräfteverhältnisses zu den eigenen Gunsten: sie garantiert die eigene Überlegenheit auf dem moralischen Feld. Das Ressentiment ist die »Flucht der Schwäche in die moralisierende Verachtung der Stärke«. 40Gerechtigkeit wird in der Hand des Ressentimentalen zur Waffe – zunächst gegen den Überlegenen und schließlich gegen jeden, der nicht die gleiche Verbitterung zum Ausdruck bringt, die er selbst in sich fühlt: »Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns […]! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort ›Gerechtigkeit‹ wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht«. 41Im Ressentiment verselbständigt sich eine Eigendynamik, die grundsätzlich und zu allererst das Negative sieht: »Es ist in ihm etwas, das schelten möchte, herabziehen, verkleinern«, 42lässt sich mit Scheler sagen und mit Deleuze ergänzen, dass »[d]ie Zurechnung von Fehlern, die Verteilung von Verantwortlichkeiten, die fortwährende Anklage« zu seinen zentralen Motiven zählt. 43Das eigentliche Movens dahinter ist und bleibt aber das neidvolle Herabziehen des Höheren und die Rache gegen sein Höherstehen – verborgen hinter einer Maske der Unschuld, die nicht nur den Anderen täuschen soll, sondern genauso sich selbst. Der Ressentimentale ist aber nicht bloß Ankläger, er wird auch Paranoiker: durch den stets verdächtigenden, stets nach Gründen für eine Verurteilung suchenden Blick, wird er zu jemandem, der immer in Habachtstellung ist, der immer Überfall und Hinterhalt, überall Gefahr und Verschwörung vermutet, und jedem als potenziellen Feind und Gefährder begegnet.
SELBSTINDUZIERTES LEIDEN, SELBSTINDUZIERTE RESSENTIMENTBILDUNG
Frappierend an der Konstellation, die durch die ressentimentgetriebenen psychologischen Abwehrmechanismen hervorgebracht wird, ist, dass der Ressentimentmensch in die Situation gerät, seine Identität und seinen Eigenwert nicht positiv aus sich selbst heraus zu stiften, sondern negativ über und gegen den Anderen. Seine Selbsterfahrung gründet nicht in einem überzeugten oder gar »triumphierenden Ja-Sagen zu sich selber«, sondern in einer Abwehrhaltung, im »Nein zu einem ›Ausserhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›Nicht-selbst‹«. 44Während sich der Starke aktiv aus sich selbst, dem Eigenen heraus konstituiert, definiert sich der Ressentimentmensch reaktiv über die Umwertung der »Gegen- und Aussenwelt«. Er hat diese geradezu zur eigenen Voraussetzung – dermaßen stark prägt ihn die ressentimentale Ohnmachtserfahrung. »Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment«. 45Er leidet so sehr an seiner Umwelt, dass er sie nur noch als antagonistisch zu erfahren imstande ist. Das wird, wie gesehen, durch die vom Ressentiment erzwungenen selbstbildstabilisierenden Maßnahmen noch einmal verstärkt, indem der Andere, der Feind als eigentlich Schuldiger, als eigentliche Quelle seiner Leiden identifiziert wird. Nur in der permanenten Anklage anderer erwächst ihm die Möglichkeit, das eigene Selbstbild zu entlasten. 46Der Ressentimentmensch konstituiert sich dann wiederum dem Anderen gegenüber als Antithese, als Gegenentwurf. Das bedeutet aber auch, er definiert sich zu allererst über das (angebliche) Unrecht, dass ihm angetan wurde.
Dies erweist sich als eine doppelt negative Identitätsstiftung: erstens wird erst von der Erfahrung des Anderen her das Eigene abgeleitet. Während die Selbstkonstitution des Selbstgewissen einen eigenständigen und souveränen Akt darstellt, lässt die des Ressentimentmenschen diese Souveränität wesentlich vermissen. Zweitens basiert diese Selbsterfahrung auf gegenseitiger Herabwürdigung: einerseits erfährt sich der Ressentimentmensch als der Schwächere und Unterlegene, und unterstellt dabei dem (vermeintlich) Überlegenen, mit Verachtung auf ihn herabzublicken. In seiner verqueren Wahrnehmung erfährt er von ihm nichts als Kränkung. Das führt andererseits dazu, dass er für den Anderen seinerseits nichts als Verachtung übrig hat. Dies ist seine Urerfahrung mit dem Anderen, mit allen Anderen, das Sentiment, das sich wiederum untrennbar an seine Selbsterfahrung geheftet hat. Sein »Verhältnis zur Umwelt ist auf das Böse gebaut und dadurch in seinen Wurzeln vergiftet«. 47Diese Feindbild konstruierende, Antagonismus schaffende, Unfrieden stiftende Dynamik entspringt zutiefst der inneren Logik des Ressentiments. Sie ist ein unhintergehbarer Aspekt desselben.
Das birgt wiederum zweierlei Konsequenzen: einerseits verschafft dies dem Ressentiment selbstperpetuierende Kräfte; andererseits manifestiert sich darin das paradoxale Verhältnis des Ressentimentmenschen zum Anderen – der ihm zugleich Quelle seiner Leiden und Instrument zu deren Linderung ist.
Es sei noch einmal erinnert: jedem Ressentiment liegt zunächst einmal eine reale Verletzung, ein realer Schmerz zugrunde. »Wer tief genug gräbt, um die Wurzel der Ressentimentbildung freizulegen, wird auf eine Kränkung stoßen«. 48Die daraus erwachsenden negativen Affekte werden durch das Nicht-Ausagieren (in der Imagination) immer wieder durchlebt und durchlitten. Sie werden ferner (in der Realität) immer wieder aktualisiert, da das Subjekt sich aufgrund seiner unüberwindlichen Ohnmacht in seine Unterlegenheit gleichsam einnistet und in immer neuen Konflikten fortwährend neue Verletzungen und neue Kränkungen erfährt. Mit der fortschreitenden Entrealisierung der Ressentimentaffekte mischen sich diesen Verletzungen nun zunehmend empfundene , unterstellte, herbei phantasierte Verletzungen bei. Das Ressentiment verdichtet sich »über die Zeit aus einem Gemisch von Erfahrungen und unbewußten Phantasien«. 49Der Ressentimentmensch bildet eine erhöhte Sensibilität für ungerechtes und verletzendes Verhalten anderer aus – und übersteuert diese bis an den Punkt, an dem er An- und Übergriffe empfindet, die gar nicht da sind. Jetzt werden potenziell verletzende Situationen oder Konstellationen »geradezu […] triebartig aufgesucht« oder Verletzendes unbewusst »in alle möglichen Handlungen und Äußerungen anderer, die gar nicht verletzend gemeint waren, […] fälschlich hineingetragen«. 50So bildet sich ein Schema zur Konstruktion von immer neuen Verletzungen heraus, das fortwährend abläuft. Doch der Ressentimentale erleidet nicht bloß Wunden, die ihm so gar nicht beigefügt werden – er schafft innerhalb dieser Dynamik zugleich immer neue Anlässe für immer neue Verwundungen: er kreiert Feinde und Feindschaften, wo de facto keine sind oder sein müssten, er provoziert fortwährend neue Konflikte und Auseinandersetzungen – dann, wenn er sich angegriffen fühlt und sich somit aus gutem und gerechtem Grund zu verteidigen glaubt. Doch er greift faktisch an, wo er sich nur zu verteidigen meint – und wird so zum Ziel dessen, der sich wiederum gegen seine Angriffe verteidigt.
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