|2|Die Rezeption, die Aufnahme des römisch-kanonischen Rechts, die, im 12. Jahrhundert beginnend, im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, ermöglichte und erzwang dann auch in Deutschland eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Recht. An den seit dem 14. Jahrhundert (zuerst in Prag 1348) auch auf deutschem Reichsboden entstehenden Universitäten konnte zunächst kanonisches, seit dem 15. Jahrhundert auch römisches Recht studiert werden (in Köln seit 1388). Das einheimische Recht fand an diesen Universitäten noch keine Pflegestatt, und so ging die Bewältigung der Probleme, die sich aus dem oft unvereinbaren Nebeneinander der beiden Rechtsmassen des rezipierten und des einheimischen Rechts sowie aus der fehlenden juristischen Bildung des Rechtspflegepersonals für die Rechtspraxis ergaben, von anderer Seite aus.
Im 15. und 16. Jh. entsteht in Deutschland ein reiches populärwissenschaftliches Schrifttum. Es will die in der Rechtspflege tätigen Laien über das rezipierte Recht belehren und muß sich zu diesem Zweck der deutschen Sprache bedienen, → Sebastian Brants Brant, Sebastian (1457–1521) Ausgabe des „Klagspiegels“ und → Ulrich Tenglers Tengler, Ulrich (um 1447 – um 1522) „Laienspiegel“ gelten als bedeutendste dieser Laienunterweisungen, die übrigens auch den Beitrag der Erfindung des Buchdrucks zur Förderung der juristischen Bildung unterstreichen.
Noch intensiver sind die legislatorischen Bemühungen, rezipiertes und einheimisches deutsches Recht zu harmonisieren. Die zunächst in bedeutenderen Städten und mehreren Territorien entstehenden Stadt- und Landrechtsreformationen zeigen sich zwar dem hergebrachten, einheimischen oder rezipierten Recht noch durchaus verpflichtet, erweisen sich aber zugleich wegen der Notwendigkeit des Ausgleichs der heterogenen Rechtsmassen als Mittel rechtlicher Gestaltung. Sie geben so dem schöpferischen Wirken bedeutender Juristenpersönlichkeiten Raum, unter denen der Freiburger → Ulrich Zasius Zasius, Ulrich (1461–1535), der Frankfurter → Johann Fichard Fichard, Johann (1512–1581), der zu den Schöpfern des württembergischen Landrechts gehörende → Johann Sichardt Sichardt, Johann (1499–1552) und → Melchior Kling Kling, Melchior (1504–1571), der Bearbeiter des sächsischen Landrechts, hervorragen. Sie alle und daneben der Basler → Bonifacius Amerbach Amerbach, Bonifacius (1495–1562) sind hier zugleich als typische Vertreter der humanistischen Jurisprudenz und als Zeugen der Reformation, die auf ihr Leben und Werk tiefgreifenden Einfluß ausgeübt hat, aufgenommen. Das Zentrum der humanistischen Rechtswissenschaft im 16. Jahrhundert war freilich Frankreich seit dem Wirken von → Alciatus Alciatus, Andreas (1492–1550) in Avignon und Bourges und Budaeus in Paris, und die französischen humanistische Rechtswissenschaft erreicht im späten 16. Jahrhundert |3|mit → Cujas Cujas, Jacques (Cuiacius, Jacobus) (1520–1590) und → Donellus Donellus, Hugo (Doneau, Hugues) (1527–1591) zwei Gipfel, denen in Deutschland nichts Vergleichbares zur Seite steht. In der Folgezeit wird dann die antiquarisch-elegante gemeinrechtliche Jurisprudenz mit besonderem Erfolg in den Niederlanden gepflegt (→ Huber Huber, Zacharias (1669–1732); niederl. Jurist, → Noodt Noodt, Gerard (1647–1725), → Bynkershoek Bynkershoek, Cornelis van (1673–1743)). In Frankreich entsteht aber auch durch → Dionysius Gothofredus Gothofredus, Dionysius (Denis Godefroy) (1549–1622) die in Europa für lange Zeit maßgebliche Ausgabe der Digesten und des corpus iuris überhaupt.
Während das Reich keinen Anteil an der eigentlichen Rezeptionsgesetzgebung hatte, weil es kaum die notwendige politische Kraft, aber auch in Anbetracht der örtlich sehr unterschiedlichen Anpassungsprobleme die gesetzgeberischen Möglichkeiten hierzu nicht besaß, gelang ihm mit der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, dem Werk des fränkischen Edelmannes und Bambergischen Hofrichters → Johann v. Schwarzenberg Schwarzenberg, Johann v. (1465–1528), ein großer Wurf. Der Vorgang der mittelalterlichen Landfriedensgesetze, die Herleitung der Strafjustiz aus dem Blutbann des Kaisers und die von der Strafgerechtigkeit besonders dringlich geforderte Rechtseinheit waren wohl in gleicher Weise Veranlassung für die Strafrechtskodifikation von Reichs wegen, die durch feste Verfahrensformen die Verankerung des Schuldprinzips und deutliche Anweisungen an die Laienrichter Rechtssicherheit zu schaffen suchte. Vorbild vieler territorialer Strafgesetzgebungen und später als ergänzender Bestandteil des Corpus Juris Civilis angesehen, wurde die Carolina als erstes deutsches Gesetz Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung, noch über den bedeutendsten Repräsentanten der gemeinen Strafrechtswissenschaft, → Benedikt Carpzov Carpzov, Benedikt (1595–1666), hinaus bis ins 18. Jahrhundert.
Das deutsche Staatsdenken der frühen Neuzeit erhielt theoretische Anregungen besonders von der Staats- und Völkerrechtslehre der spanischen Spätscholastiker (→ Vitoria Vitoria, Francisco de (1480/1492–1546), → Suárez Suárez, Francisco (1548–1617)) und von → Jean Bodin Bodin, Jean (1529/30–1596). In der Sache mußte vor allem die neue staatsrechtliche Situation bewältigt werden, die durch die Reformation entstanden war. Sie leitete die Entwicklung einer spezifisch protestantischen Staatslehre ein, als deren Vertreter → Johann Oldendorp Oldendorp, Johann (um 1488–1567) und → Johannes Althusius Althusius, Johannes (1557–1638) hier vorgestellt werden. Darüber hinaus verlangten einerseits die politischen Auseinandersetzungen zwischen den Religionsparteien, die die Ablösung der bisher einheitlichen religiösen Grundlage der Reichsverfassung durch den religiösen Dualismus anzeigten, andererseits die Provokation des Bodin schen Souveränitätsbegriffs und damit des neuen absolutistischen Staatsdenkens das Ringen um ein neues Verständnis der Reichsverfassung. Die Reichspublizistik, als deren |4|Be gründer → Dominicus Arumaeus Arumaeus, Dominicus (1579–1637) gilt, erlebt während des 30jährigen Krieges, nicht zuletzt wegen ihrer Bedeutung für die politische Praxis, in → Johannes Limnäus Limnäus, Johannes (1592–1663), → Jacob Lampadius Lampadius, Jacob (1593–1649), → Dietrich Reinkingk Reinkingk, Dietrich (1590–1664), aber auch dem glänzenden Agitator in schwedischen Diensten → Bogislaus von Chemnitz Chemnitz, Bogislaus Philipp v. (1605–1678) eine Blüte. Später wird die Nähe von wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Staatsrecht und politischer Tätigkeit noch einmal besonders fruchtbar bei → Johann Jacob Moser Moser, Johann Jacob (1701–1785), der zugleich die der Reichspublizistik allgemein zu dankende Modifikation des absolutistischen Souveränitätsdenkens personifiziert. Als zweite bedeutende Leistung ist der Reichspublizistik, hier vor allem durch → Christoph Besold Besold, Christoph (1577–1638) und den bedeutenden Theoretiker und Universitätslehrer → Johann Stephan Pütter Pütter, Johann Stephan (1725–1807) repräsentiert, die Entwicklung des Bundesstaatsbegriffs zuzuschreiben, in dem besonders die Struktur des Heiligen Römischen Reiches für moderne Staatenorganisation fruchtbar geworden ist, eines Reiches, das → Pufendorfs Pufendorf, Samuel (1632–1694) berühmter Kritik als einem Monstrum ähnlich erschien.
Bis ins 17. Jahrhundert hinein wurde die Geltung des rezipierten römischen Rechts in Deutschland aus der „translatio imperii“, der Fortsetzung des römischen Kaisertums in der Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches, hergeleitet. Mit dem Autoritätsverlust des Kaisertums infolge des Religionszwiespalts, der sich insbesondere aus der Zurechnung des habsburgischen Kaisers zur katholischen Religionspartei ergab, mußte auch die Geltungsbasis des rezipierten Rechts ins Schwanken geraten. So ging denn auch der Angriff gegen die bisherige Annahme einer legislativen Rezeption von dem reichsständisch gesinnten Protestanten → Hermann Conring Conring, Hermann (1606–1681) aus, dem der Nachweis einer nur gewohnheitsrechtlichen Geltung des römischen Rechts in Deutschland gelang. Damit war einer freieren wissenschaftlichen Behandlung des der legislativen Autorität entkleideten rezipierten Rechts und einer stärkeren Berücksichtigung einheimischen Rechts gemäß den Bedürfnissen der Praxis im „usus modernus pandectarum“ der Weg geebnet.
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