Einen weiteren Aspekt ergibt die Unterscheidung zwischen geisteswissenschaftlichen und empirisch-analytischen Methoden. Letztere haben einen mehr instrumentellen Charakter; man kann sie erlernen wie eine andere Technik und entsprechend einsetzen; so kann man z. B. ein Experiment durchführen oder nicht. Dies ist im Hinblick auf geisteswissenschaftliche Methoden streng genommen nicht möglich; denn hermeneutisches Verstehen oder phänomenologische Befunde sind immer schon mit im Spiel, wenn ich an einen pädagogischen Sachverhalt überhaupt herangehe und auch, wenn ich über die angemessenste Forschungsmethode reflektiere.
Während empirische Methoden mehr den Charakter des technischen Zugreifens besitzen, wollen die geisteswissenschaftlichen Methoden 20mehr den Gegenstand selbst sprechen lassen. Der Gegenstand „spricht“ aber schon, bevor ich überhaupt an eine empirische Untersuchung denke, indem beispielsweise ein erzieherischer Missstand sichtbar geworden ist. Insofern können geisteswissenschaftliche Methoden und empirische nicht auf einer Ebene gesehen werden. Die Reflexion über ‚geisteswissenschaftliche‘ Methoden hat einen anderen Stellenwert als die über empirische; der Begriff ‚Methode‘ meint damit auch etwas Unterschiedliches; es geht dort weniger um das Erlernen und spätere Anwenden als um das Kennenlernen eines Erkenntnisvorganges, der auch ohne „Methodenstrategie“ ständig und längst geschieht (Gadamer 1975, XXVII, 483). Die bessere Kenntnis wird uns aber helfen, auch im geisteswissenschaftlichen Bereich methodisch bewusster vorzugehen.
Damit sind wir wieder zum Anfang unserer Überlegungen über den Sinn der Methodenreflexion zurückgekommen.
Zusammenfassend wollen wir uns die wichtigsten Gesichtspunkte nochmals vergegenwärtigen:
Eine Methode ist die Art und Weise, wie man vorzugehen hat, um zu einem Ziel, z. B. zu Erkenntnissen, zu gelangen. Das griechische méthodos bedeutet soviel wie das „Entlanggehen eines Weges“.
Uns geht es hier um Forschungsmethoden, nicht um Erziehungs-oder Unterrichtsmethoden.
Die Methodenreflexion ist Teil der Wissenschaftstheorie, d. h. der philosophischen Begründung dessen, was man unter Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit verstehen will. Daher ist eine Methode vom jeweiligen wissenschaftstheoretischen Standpunkt abhängig.
Umgekehrt wird an den Methoden sichtbar, wie sich eine Wissenschaft versteht. Die Beschäftigung mit Forschungsmethoden vermag darum das Bewusstsein für Wissenschaftlichkeit zu wecken. ( Abb. 1)
Jede wissenschaftliche Methode hat ihre spezifischen Erkenntnismöglichkeiten und ihre Grenzen. Die einzelnen Methoden unterscheiden sich jedoch oft nicht nur formal und rein äußerlich; sie sind auch wissenschaftstheoretischer Ausdruck eines bestimmten Welt-und Menschenbildes. Daher stehen sie – wie die ‚empirischen‘ und ‚geisteswissenschaftlichen‘ Methoden – im Widerstreit.
Wissenschaftliche Forschung geschieht aber sinnvollerweise durch das Zusammenwirken mehrerer Methoden, die ergänzend aufeinander bezogen werden.
Vor einer Methodengläubigkeit sollten wir uns hüten, weil Methoden 21lediglich dienende Funktion haben; ein selbstständiger Methodenapparat macht nicht die gesamte Forschung aus. Vielmehr kann eine Überbewertung einzelner Methoden oder der Methodenfrage insgesamt bedeuten, dass der Gegenstand der Untersuchung verdeckt oder verfälscht wird.
1.2. Was heißt „geisteswissenschaftliche Pädagogik“?
Die Ausdrücke „geisteswissenschaftlich“ und „Geisteswissenschaften“ begegnen uns häufig, auch in pädagogischer Literatur, und wir nehmen sie als selbstverständlich hin. Doch fragen wir uns selbst einmal, was wir uns darunter vorstellen, so geraten wir in Verlegenheit; „Geisteswissenschaft“ wird zu einem vagen Gebilde. Die Auskünfte, die wir uns von einschlägiger Literatur erhoffen, verwirren uns möglicherweise noch mehr. A. Diemer stellt gar neun Wissenschaftsrichtungen fest, die in den Begriff „Geisteswissenschaft“ eingegangen sind (Diemer 1975, 7–9; 1974, 213). Zu allem Überfluss kann uns ein Buchtitel begegnen, der „die Unmöglichkeit der Geisteswissenschaft“ behauptet (Kraft 1957). Die Bezeichnung „Geisteswissenschaft“ erweist sich also als mehrdeutig, und die Berechtigung dieses Wissenschaftstyps ist umstritten .
Aber bei allen Schwierigkeiten lässt sich dennoch umreißen, was denn unter „Geisteswissenschaft“ zu verstehen sei. Am einfachsten ist zunächst eine negative Bestimmung, also was Geisteswissenschaft nicht ist: nämlich Naturwissenschaft. Auf einige unterscheidende Merkmale kommen wir noch zurück.
Nun wird in der Regel nicht von der Geisteswissenschaft gesprochen, sondern von den Geisteswissenschaften, also von mehreren Wissenschaften, die sich als „geisteswissenschaftlich“ auszeichnen – wir können für unseren Zusammenhang sagen: die mit geisteswissenschaftlichen Methoden arbeiten. Zu den Geisteswissenschaften zählt man in der Regel die Folgenden: Philosophie, Sprachwissenschaften, Geschichte, Kunstwissenschaften, Rechtswissenschaft, Theologie, aber auch – unter bestimmten Voraussetzungen – Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Dies sind also Wissenschaften, die in den (alten) philosophischen (philologisch-historischen), theologischen und juristischen Fakultäten gepflegt werden (Gadamer 1958, 1304). „Sie sind die Wissenschaften, die im Horizont der uns überhaupt zugänglichen geschichtlichen 22Zeit die Geschichte selbst, Sprache, Kunst, Dichtung, Philosophie, die Religionen, aber ebenso auch Dokumentationen persönlichen Lebens … zum Gegenstand haben und vergegenwärtigen“ (Ritter 1961, 17). Jene Wissenschaften haben zwar zum Teil selbst eine sehr lange Geschichte; ihr Selbstverständnis und ihre Begründung als „Geisteswissenschaften“ sind jedoch relativ jung und gehen auf das 19. Jahrhundert zurück. 10Dies hängt nicht zuletzt mit der Absetzung von den Naturwissenschaften zusammen.
Es war vor allem W. Dilthey (1833–1911), der dem Wissenschaftsverständnis der Naturwissenschaften ein geisteswissenschaftliches entgegensetzen wollte. Für die geisteswissenschaftliche Pädagogik ist er der maßgebliche Denker; denn neben dem Versuch einer Begründung der Geisteswissenschaft überhaupt und einer geisteswissenschaftlichen Psychologie legte er den Grundstein für eine geisteswissenschaftliche Pädagogik. 11Dilthey selbst war beeinflusst von I. Kant (1724–1804); analog zu dessen „Kritik der reinen Vernunft“ forderte er eine „Kritik der historischen Vernunft“ (Dilthey VII, 1961, 191). Weiterhin steht hinter der Polarität von Natur- und Geisteswissenschaften die Natur-Geist-Philosophie des Deutschen Idealismus. [J. G. Fichte (1762–1814), F. W. J. Schelling (1775–1854), G. W. F. Hegel (1770–1831) sind Hauptvertreter des Deutschen Idealismus.] Dessen spekulatives Denken lehnte jedoch Dilthey strikt ab. Über Dilthey ist vor allem auch F. Schleiermacher (1768–1834) für die geisteswissenschaftliche Pädagogik fruchtbar geworden. „Das gilt u. a. für die von Schleiermacher gewonnenen Einsichten über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Ethik und Pädagogik, Pädagogik und geschichtlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und für Schleiermachers Einsichten in die dialektische Struktur des pädagogischen Geschehens und Handelns“ (Kiel 1967, 802).
In die Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik durch Dilthey geht zunächst sein lebensphilosophischer Ansatz ein. „Lebensphilosophie“ bedeutet, dass das „Leben“ als einheitlicher, nicht mehr hinterfragbarer Grund von allem gesehen wird; es geht um Unmittelbarkeit, um das schöpferische im Gegensatz zu einem rein spekulativen Denken. Nach Dilthey setzt geisteswissenschaftliche Erkenntnis an beim Erleben des Menschen, auch bei dessen Geschichte. „Die einzelnen Erscheinungen im Reiche der Geschichte lassen sich, das ist seine These, nicht von außen her erklären wie physikalische Vorgänge, sondern nur von innen her verstehen, d. h. von einer erlebenden Seele als Ausdruck eines Inneren auffassen, das ebenfalls erlebt und versteht. Dabei wird das Ganze nicht erst aus Elementen aufgebaut, sondern die 23Einzelerscheinungen sind bereits als ganzheitliches Gefüge, als Struktur gegeben und werden aus der Ganzheit heraus verstanden. Seelenleben verstehen heißt also ganzheitliche Gefüge erfassen, beschreiben und zergliedern“ (Reble 1975, 344).
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