Nairobi, Februar 2006
Helmut Danner
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Einführung
„Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger“: So lautet ein Buchtitel, der 1968 erschienen ist (Dahmer / Klafki). Erich Weniger starb 1961; mit ihm scheint demnach die Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu Grabe getragen worden zu sein; die Zukunft und der Fortschritt gehören jetzt – wem? Die Vertreter der „kritischen“ Erziehungswissenschaft streiten sich mit den empirisch-analytischen Pädagogen um den Rang der alleingültigen Wissenschaftlichkeit. Aber beide glauben, das „weltfremde, metaphysische Gerede“ der geisteswissenschaftlichen Pädagogik längst überwunden zu haben. Immerhin, ein Rezensent des genannten Werkes kommt zu dem tröstlichen, wenn auch unsicheren Urteil: „Ist auch die Epoche der geisteswissenschaftlichen Pädagogik an ihr Ende gelangt, so scheint doch ihr Beitrag zur Entwicklung der Erziehungswissenschaft nicht vergeblich gewesen zu sein“ (Stütz 1968, 665 f).
Wozu also sich mit längst Vergangenen abgeben, noch dazu mit einem ganz speziellen Ausschnitt daraus, mit geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden? Nun wäre es denkbar, dass nicht die Sache selbst, nämlich die geisteswissenschaftliche Pädagogik, zu Ende gegangen ist, sondern einfach das Interesse einiger Schüler des Geisteswissenschaftlers Erich Weniger und anderer an dieser Sache; dass also die Fragen und Probleme, mit denen sich die geisteswissenschaftliche Pädagogik beschäftigt, nach wie vor bestehen. Wenn es so wäre, dann hätte es also sehr wohl Sinn, sich auf die Denkhaltung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik einzulassen, ja es könnte sogar ein Versäumnis für die Erziehungs-und Bildungsfrage bedeuten, wenn man es nicht täte. Das vorliegende Buch macht es sich – quasi nebenbei – zur Aufgabe, die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Fragestellung aufzuzeigen. Die Hauptaufgabe aber liegt in der Darstellung der Methoden dieser geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Zuvor aber scheint es nötig, sich einige Gedanken zu machen über die umstrittenen Begriffe „Geisteswissenschaft“ und „geisteswissenschaftliche Pädagogik“. Eine wissenschaftstheoretische Gesamtdarstellung und Grundlegung ist weder möglich noch beabsichtigt.
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1.1 Zum Sinn der Methodenreflexion
Zunächst fragen wir, was denn „Methode“ heißt. Das Wort kommt aus dem Griechischen: μἐυoδoς (méthodos) und setzt sich zusammen aus den Wörtern μετά (metá) „entlang“ und óδóς (hodós) = „Weg“. „Methode“ bedeutet also soviel wie das „Entlanggehen eines Weges“ (Bocheński 1969, 16). Die Methode ist das Verfahren, das einen bestimmten Weg aufzeigt, um ein vorgesetztes Ziel zu erreichen (Müller/ Halder 1967, 110). Die Verfahren des Lehrers, um bei seinem Schüler zu einem Urteil zu kommen, können darin bestehen, den Schüler über längere Zeit zu beobachten oder ihm gezielte Tests vorzulegen. Und der Erziehungswissenschaftler hat beispielsweise die Möglichkeit, die Methode des (strengen) Beschreibens oder der statistischen Erhebung anzuwenden, um etwa verschiedene Erziehungsstile zu ermitteln.
Uns soll es hier um Forschungsmethoden gehen. Das heißt also, dass uns nicht interessiert, welche Wege der Lehrer einschlägt, um seinen Schülern das Bruchrechnen oder geschichtliches Denken beizubringen. Wir lassen außer Acht, welche Maßnahmen Eltern ergreifen mögen, um ihren Kindern Ordnungssinn anzuerziehen. Dies sind Fragen der Unterrichts- bzw. Erziehungsmethodik, die in unserem Zusammenhang keine Rolle spielen. (Einen Überblick über Erziehungs- und Unterrichtsmethoden bietet beispielsweise K. H. Schwagers Artikel „Methode und Methodenlehre“ (1970, 93–128). Wir fragen hier nach Methoden, welche die Pädagogik als Wissenschaft anwenden kann und muss, um zu Erkenntnissen zu kommen. Der Begriff „Forschungs“-methoden setzt sich also ab gegen praktische Methoden der Pädagogik. Dabei ist zu beachten, dass mit „Forschung“ nicht nur etwa Labor- und Felduntersuchungen gemeint sind, sondern z. B. auch eine historische Untersuchung. Mit Forschung soll also hier allgemein die gezielte, planvolle wissenschaftliche Tätigkeit verstanden werden. 1
Methode bezeichnet also in einer Wissenschaft den Weg, die Art und Weise, wie zu einer Erkenntnis gelangt werden kann. Wenn ich methodisch arbeite, gehe ich planvoll und nach bestimmten Regeln vor. Jede Wissenschaft versucht, die Methoden, die ihr am angemessensten sind, herauszufinden, zu begründen und zu differenzieren. Diese Bemühung einer Wissenschaft um ihre Methoden steht aber in einem größeren Zusammenhang, den man mit Wissenschaftstheorie bezeichnet.
In der Wissenschaftstheorie legen die einzelnen Wissenschaften ihr Selbstverständnis als Wissenschaft fest und versuchen, es zu begründen. 2Das bedeutet also, wenn wir uns hier mit bestimmten Methoden 15der Erziehungswissenschaft beschäftigen, dass wir dann auch nach dem Selbstverständnis der Pädagogik als Wissenschaft fragen. Es ist nun einmal ein fundamentaler Unterschied, ob ich beispielsweise das autoritäre Verhalten von Vätern gesamtmenschlich zu verstehen und zu deuten versuche, oder ob ich eine Strichliste darüber führe, wie oft sie ihren Kindern etwas verbieten. Der Unterschied dieser beiden einfachen Beispiele liegt ja nicht nur in der Methode, sondern darin, wie ich als Wissenschaftler meine, zu pädagogisch bedeutsamen Aussagen gelangen zu können.
Hier schließt sich sofort die Frage an, was denn als „pädagogisch bedeutsam“ gelten soll, ja letztlich: welches Menschenbild ich habe, aufgrund dessen ich meine, wissenschaftlich so oder so vorgehen zu müssen. Diese Fragen zeigen, in welcher Dimension und Bedeutung die Methodenreflexion gesehen werden muss. Mit anderen Worten: Es ist nicht gleichgültig, welche Methoden in der erziehungswissenschaftlichen Forschung angewandt werden. Die Reflexion über die Methoden hat darum unter anderem den Sinn der wissenschaftstheoretischen Klärung (siehe Abb. 1).
Abb. 1: Einordnung der Methoden
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Das Schaubild will zum einen die Stellung der Methodenfrage im Rahmen der Wissenschaftstheorie und der praktischen wissenschaftlichen Forschung andeuten: Die Methodenfrage ist ein Teil der Wissenschaftstheorie; die angewandten Methoden bestimmen wesentlich die wissenschaftliche Tätigkeit; umgekehrt müssen die Methoden dem jeweiligen Forschungsgegenstand angemessen sein (kleine Pfeile). Zum anderen soll das Schaubild auf die innere Abhängigkeit der Wissenschaftstheorie, der Wissenschaft(en)und damit auch der Methoden von philosophischen, weltanschaulichen Grundlagen und Voraussetzungen hinweisen (große Pfeile). Mit anderen Worten: Das, was unter Wissenschaft verstanden werden soll (Wissenschaftstheorie) und die forschende Tätigkeit ändern sich, wenn von unterschiedlichen philosophischen Voraussetzungen ausgegangen wird. Diese können bewusst als philosophische Grundannahmen oder als weltanschauliche Haltung eingebracht werden; sie können aber auch unbekannt als jeweiliges Welt- und Menschenbild einfließen.
Unser Schaubild ist rein schematisch und idealtypisch – und somit auch vereinfachend wie jede Schematisierung. Denn vor allem die These, dass philosophische und weltanschauliche Grundannahmen in die Wissenschaftsauffassung eingehen, wird weithin abgelehnt (Brezinka 1978, 19). Teilweise wird an der Existenzberechtigung der Philosophie gezweifelt; Wissenschaftstheorie und Philosophie werden dann identisch. Damit würde sich auch unser Schaubild verändern; das untere Feld „Philosophie“ müsste dann wegfallen. 3Es wäre noch eine Reihe von anderen Variationen vorstellbar, auf die wir aber hier nicht eingehen müssen.
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