3. Art des Wissens bei deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen
155Die Wissensseite des Vorsatzes setzt Tatumstands- und Bedeutungskenntnis beim Täter voraus. Welche Anforderungen an die Wissenskomponente zu stellen sind, hängt davon ab, ob es sich bei dem zu prüfenden Tatbestandsmerkmal um ein deskriptives oder normatives handelt.
156 Deskriptive Tatbestandsmerkmalesind solche, deren Vorhandensein tatsächlich wahrgenommen werden kann (z.B. „Sache“ i.S.v. §§ 242 Abs. 1, 246 Abs. 1, 303 Abs. 1 StGB; „beweglich“ i.S.v. §§ 242 Abs. 1 StGB, 246 Abs. 1 StGB). Bei diesen ist erforderlich, dass der Täter die Gegebenheiten, die durch das jeweilige Gesetzesmerkmal bezeichnet werden, zutreffend erfasst. Notwendig ist Kenntnis bzgl. des tatsächlichen Sinngehalts.[161]
157|54|Das Vorhandensein von normativen Tatbestandsmerkmalenkann dagegen regelmäßig nicht durch bloße Beobachtung festgestellt werden, sondern hängt von rechtlichen oder außerrechtlichen Normen ab. So sieht man bspw. einer Sache nicht an, ob sie fremd i.S.d. §§ 242 Abs. 1, 246 Abs. 1, 303 Abs. 1 StGB ist, vielmehr bedarf es hierfür einer Wertung, die sich nach den Eigentumsregelungen im BGB vollzieht. Bei normativen Tatbestandsmerkmalen ist das Wissenselement des Vorsatzes erfüllt, wenn der Täter ihre rechtlich-soziale Bedeutung erfasst. Dies fordert mehr als bloße Kenntnis, aber weniger als juristisch exakte Subsumtion, da andernfalls bestimmte Straftaten nur durch Juristen begangen werden könnten.[162] Die hiernach erforderliche und ausreichende Parallelwertung in der Laiensphäreliegt vor, wenn der Täter nach Laienart erfasst, was in der konkreten Situation rechtlich von ihm verlangt wird, ohne dass er in dem Bewusstsein handeln muss, einen ganz bestimmten Straftatbestand zu verwirklichen.[163] Fälscht bspw. A eine private Rechnung, von der er weiß, dass sie im Rechtsverkehr zum Beweis dient, genügt seine Vorstellung auch dann zur Bejahung des Vorsatzes bzgl. des Tatobjekts einer Urkundenfälschung gem. § 267 Abs. 1 StGB, wenn er irrtümlich annimmt, Urkunden wären nur von öffentlichen Stellen ausgestellte Schriftstücke.
4. Arten des Vorsatzes, insbesondere bedingter Vorsatz
158Im Hinblick auf den Tatbestandsvorsatz sind drei Erscheinungsformen zu unterscheiden: Die Absicht(dolus directus 1. Grades), der direkte Vorsatz(dolus directus 2. Grades) und der bedingte Vorsatz(dolus eventualis). Eine andere Vorsatzform als den bedingten Vorsatz muss der Täter für die Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes nur dann aufweisen, wenn das Gesetz dies ausdrücklich anordnet.
a) Absicht (dolus directus 1. Grades)
159Bei der Absicht ist das voluntative Element im Sinne zielgerichteten Wollensam stärksten ausgeprägt. Unter Absicht ist der bestimmte, auf die Herbeiführung eines Erfolgs gerichtete Wille zu verstehen.[164] Es muss dem Täter also gerade darauf ankommen, den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen bzw. dasjenige Tatbestandsmerkmal zu erfüllen, für das das Gesetz absichtliches Handeln fordert. Allerdings ist nicht erforderlich, dass der Umstand, hinsichtlich dessen Verwirklichung der Täter absichtlich handelt, sein Endziel ist. Es genügt, wenn er notwendiges Mittel (d.h. ein Zwischenziel) zur Erreichung |55|eines anderen Zwecks ist.[165] Tötet A den O, der ihn bei einem anderen Verbrechen beobachtet hat, so besteht sein Endziel darin, unentdeckt zu bleiben. Da er als „Zwischenziel“ jedoch den Tod des O anstrebt, handelt A diesbezüglich mit Absicht (und erfüllt zudem das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht gem. § 211 Abs. 2 Gruppe 3 Var. 2 StGB).
160Steht fest, dass es dem Täter gerade darauf ankommt, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, so liegt selbst dann ein absichtliches Handeln vor, wenn er den Erfolgseintritt lediglich für möglich hält. Ein Erfolg, auf dessen Verwirklichung es dem Täter ankommt, ist also immer auch beabsichtigt, selbst wenn der Täter nicht sicher weiß, ob er zur Tatbestandsverwirklichung auch wirklich in der Lage ist.[166]
b) Direkter Vorsatz (dolus directus 2. Grades)
161Direkter Vorsatz ist gegeben, wenn der Täter entweder weiß oder aber als sicher voraussieht, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht.[167] Einem weniger stark ausgeprägten voluntativen Element steht hier ein starkes kognitives Element gegenüber; der Täter sieht den Erfolg als sicher voraus und handelt trotzdem. Anders als bei der Absicht, wo es dem Täter gerade darum gehen muss, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, ist es für die Annahme eines direkten Vorsatzes grundsätzlich unerheblich, ob der Erfolgseintritt dem Täter willkommen ist. Auch „an sich unerwünschte“ aber für sicher gehaltene Erfolge begründen einen direkten Vorsatz.
c) Bedingter Vorsatz (dolus eventualis)
162Der bedingte Vorsatz enthält das voluntative und kognitive Element jeweils in abgeschwächter Form. Streitig ist, wie der bedingte Vorsatz zu bestimmen und so von der bewussten Fahrlässigkeit (zu dieser noch Rn. 815) abzugrenzen ist. Die Frage ist von erheblicher praktischer Bedeutung, da nach § 15 StGB grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln strafbar und die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit gesetzliche Ausnahme ist. Zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit werden daher eine Vielzahl von Ansichten vertreten.[168] Diese können, wie Tab. 4 zeigt, in zwei Gruppen unterteilt werden. Zu unterscheiden sind Vorstellungstheorien, die das kognitive Element (in |56|unterschiedlicher Intensität) genügen lassen, und Willenstheorien, die darüber hinaus ein voluntatives Element fordern.[169]
Tab. 4:
163Theorien zum bedingten Vorsatz
I. |
Vorstellungstheorien |
bedingter Vorsatz, wenn |
|
1. Möglichkeitstheorie |
der Erfolgseintritt konkret für möglich gehalten und trotzdem gehandelt wird |
|
2. Wahrscheinlichkeitstheorie |
die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erkannt wird |
II. |
Willenstheorien |
bedingter Vorsatz, wenn |
|
1. Billigungstheorie |
die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt und der Erfolgseintritt billigend in Kauf genommen wird |
|
2. Ernstnahmetheorie |
der Täter die Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung ernst nimmt und sich damit abfindet |
|
3. Theorie von der Manifestation des Vermeidewillens |
keine äußerlichen Maßnahmen zur Vermeidung des tatbestandlichen Erfolges ergriffen wurden |
164Die Problematik und die Auswirkungen der in Tab. 4 dargestellten Auffassungen sollen nachfolgend anhand der Lösung des sog. Lederriemen-Fallsveranschaulicht werden:[170] A und B wollten O überfallen. Den Plan, O mit einem ledernen Hosenriemen zu würgen, ließen sie zunächst fallen, weil sie die Gefahr sahen, dass O dadurch nicht lediglich bewusstlos werden, sondern sterben könnte. Als aber der Versuch, O mit einem Sandsack zu betäuben, erfolglos geblieben und es zu einem Handgemenge gekommen war, würgten sie den O schließlich doch so lange mit dem Lederriemen, bis O die Arme fallen ließ. Daraufhin begannen A und B, den O zu fesseln. Als dieser sich aufrichtete, warf sich B auf seinen Rücken und drückte ihn nach unten, während A erneut begann, O mit dem Riemen zu drosseln. Dabei hatte er den Riemen so um Os Hals gelegt, dass das Riemenende durch die Schnalle führte. A zog an dem Riemen wiederum so lange, bis O sich nicht mehr rührte und keinen Laut mehr von sich gab. Als B das merkte, rief er A zu: „Hör auf!“ A ließ daraufhin vom Drosseln ab. A und B fesselten nunmehr O und suchten sich in seiner Wohnung eine Reihe von Gegenständen aus. Anschließend sahen sie nach O und bekamen Bedenken, ob dieser noch lebe. Sie versuchten vergeblich eine Wiederbelebung. – Fraglich ist, ob A und B hinsichtlich des Todes des O vorsätzlich handelten, obgleich ihnen dieser Erfolg unerwünscht war.
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