Entscheidung „Numerus Clausus Entscheidung“ (BVerfGE 33, 303, Urteil vom 03.05.1972):
Anm. d. Autorin: Das BVerfG stellte zunächst fest, dass aus dem Sozialstaatsprinzip kein Anspruch auf eine Ausbildungsstätte erwächst. Wenn der Staat aber Ausbildungseinrichtungen schafft, dann hat jeder einen Anspruch auf chancengleiche Zulassung. Dies folge aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 GG) i. V. m. dem Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und dem Sozialstaatsprinzip.
Aus den Gründen: „Aus dem in Art. 12 Abs. 1Satz 1 GG gewährleisteten Recht auf freie Wahl des Berufes und der Ausbildungsstätte in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip folgt ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium. Dieses Recht ist durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes einschränkbar. Absolute Zulassungsbeschränkungen für Studienanfänger einer bestimmten Fachrichtung sind nur verfassungsmäßig, a) wenn sie in den Grenzen des unbedingt Erforderlichen unter erschöpfender Nutzung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten angeordnet werden und b) wenn die Auswahl und Verteilung der Bewerber nach sachgerechten Kriterien mit einer Chance für jeden an sich hochschulreifen Bewerber und unter möglichster Berücksichtigung der individuellen Wahl des Ausbildungsortes erfolgen.“
Das Sozialstaatsprinzip gebietet eine gleichmäßige Verteilung der öffentlichen Lasten (Lastenausgleichsgebot).
Entscheidung „Entschädigung von Kriegsfolgeschäden“ (BVerfGE 27, 253, Beschluss vom 03.12.1969):
„Ergibt sich aus der dargestellten katastrophalen Situation nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches schon allgemein, daß dem Gesetzgeber für die Regelung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten ein sehr weites Gestaltungsermessen zugestanden werden muß (vgl. BVerfGE 15, 167 [201]; 23, 153 [168]), so gilt dies auch für die Ausgestaltung der in den Teilregelungen gewährten Ausgleichsoder Entschädigungsansprüche nach ihrer Art und Höhe. Der Krieg und seine Folgen haben in Millionen verschiedenartiger Fälle zu materiellen und immateriellen Schäden geführt. Es ist nicht möglich, für diesen Gesamtbereich gesetzliche Regelungen zu finden, die im Ergebnis jeden Bürger gleichstellen und Schicksalsschläge in jedem Einzelfall gerecht ausgleichen. Vielmehr muß es genügen, wenn die gesetzliche Regelung in großen Zügen dem Gerechtigkeitsgebot entspricht. Namentlich durfte sich der Gesetzgeber angesichts des Ausmaßes des ,Staatsbankrotts‘ (Herv. i. Orig.) beim Ausgleich von Schäden an Eigentum oder Vermögen darauf beschränken, gewisse äußerste Folgen auszugleichen, um die unbedingt erforderliche Grundlage für die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen zu gewährleisten oder wiederherzustellen, er durfte also sozialen Erwägungen den Vorrang geben.“
Das Sozialstaatsprinzip fordert die Sicherung des Existenzminimums.
Entscheidung „Einkommensbesteuerung“ (BVerfGE 82, 60, Beschluss vom 29.05.1990):
„Bei der Einkommensbesteuerung muß ein Betrag in Höhe des Existenzminimums der Familie steuerfrei bleiben; nur das darüber hinausgehende Einkommen darf der Besteuerung unterworfen werden.“
Das Sozialstaatsprinzip fordert eine Hilfestellung für Menschen mit materiellen, gesundheitlichen oder psychologischen Problemen (vgl. BVerfG, NJW 1977, 1489). Amtsinhaber sind (daher) nicht nur Vollstrecker staatlichen Willens und nicht nur Diener des Staates, sondern auch Helfer des Bürgers (vgl. BVerfG, NJW 1965, 1227).
Entscheidung „Der Soldatenmord von Lebach – Resozialisierungsentscheidung“ (BVerfGE 35, 202, Urteil vom 06.06.1973):
Anm. d. Autorin: Ein wegen Mordes verurteilter Straftäter, dessen Tat in der Öffentlichkeit erhebliches Aufsehen erregt hatte, klagte kurz vor seiner Entlassung gegen eine Fernsehanstalt, die einen Spielfilm über seine Verbrechen ausstrahlen wollte. Das BVerfG untersagte die Ausstrahlung, weil dadurch der Resozialisierungsanspruch des Strafgefangenen verletzt werde. Der Resozialisierungsanspruch folge aus dem Grundsatz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip. Aus dem Sozialstaatsprinzip folge die Pflicht zur Vor- und Fürsorge für Personen, die in ihrer sozialen Entfaltung behindert seien, auch wenn dies auf persönlicher Schuld beruhe. Zu diesen Personen gehörten auch Strafgefangene und -entlassene.
Leitsätze u. a.: „Für die aktuelle Berichterstattung über schwere Straftaten verdient das Informationsinteresse der Öffentlichkeit im allgemeinen den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz des Straftäters. Jedoch ist neben der Rücksicht auf den unantastbaren innersten Lebensbereich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten; danach ist eine Namensnennung, Abbildung oder sonstige Identifikation des Täters nicht immer zulässig. Der verfassungsrechtliche Schutz der Persönlichkeit läßt es jedoch nicht zu, daß das Fernsehen sich über die aktuelle Berichterstattung hinaus etwa in Form eines Dokumentarspiels zeitlich unbeschränkt mit der Person eines Straftäters und seiner Privatsphäre befaßt. Eine spätere Berichterstattung ist jedenfalls unzulässig, wenn sie geeignet ist, gegenüber der aktuellen Information eine erheblich neue oder zusätzliche Beeinträchtigung des Täters zu bewirken, insbesondere seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft (Resozialisierung) zu gefährden. Eine Gefährdung der Resozialisierung ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine den Täter identifizierende Sendung über eine schwere Straftat nach seiner Entlassung oder in zeitlicher Nähe zu der bevorstehenden Entlassung ausgestrahlt wird.“
Entscheidung „Pflichtarbeit beim Strafvollzug“ (BVerfG, Urteil vom 01.07.1998, 2 BvR 441/90):
Leitsätze u. a.: „Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber, ein wirksames Konzept der Resozialisierung zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen. Dabei ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen wird, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muß nicht notwendig finanzieller Art sein. Sie muß aber geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Ein gesetzliches Konzept der Resozialisierung durch Pflichtarbeit, die nur oder hauptsächlich finanziell entgolten wird, kann zur verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung nur beitragen, wenn dem Gefangenen durch die Höhe des ihm zukommenden Entgelts in einem Mindestmaß bewußt gemacht werden kann, daß Erwerbsarbeit zur Herstellung der Lebensgrundlage sinnvoll ist. Art. 12 Abs. 3GG beschränkt die zulässige Zwangsarbeit auf Einrichtungen oder Verrichtungen, bei denen die Vollzugsbehörden die öffentlich-rechtliche Verantwortung für die ihnen anvertrauten Gefangenen behalten.“
Читать дальше