Schindelmeiser, J. (2014): Anatomie und Physiologie für Sprachtherapeuten. 3. Aufl. Urban u. Fischer, München
Trevarthen, C. (2012): Intersubjektivität und Kommunikation. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 82-157
2.2 Sprachphilosophische und anthropologische Grundlagen
2.2.1 Der Mensch in seiner Sprachlichkeit als Ausgangsbasis und Zielkategorie
 
ganzheitlicher Zugang
Zoomt man im unteren Teil der gerade erläuterten graphischen Darstellung unseres Faches als Integrationswissenschaft (Abb. 8). näher auf ihren Aufgaben- und Zielbereich (Abb. 9), so wird deutlich, dass – wie im vorher untersuchten Fallbeispiel in allen Aufgabenstellungen, die sich in unserem Fach ergeben – immer der Mensch in seiner Sprachlichkeit im Mittelpunkt steht (Lüdtke 2012a).
Abb. 9: Mensch in seiner Sprachlichkeit als Ausgangsbasis und Zielkategorie einer pädagogischen Verstehens- und Handlungsperspektive des Faches
Trias Sprachvermögen – Sprache – Sprechen
Die Frage, was Sprache eigentlich ist und was die menschliche Sprach- und Kommunikationsfähigkeit ausmacht, beschäftigt die Menschheit in allen Kulturen seit jeher (Kristeva 1989). In der europäischen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft setzten sich viele Wissenschaftler mit der Entschlüsselung dieses Phänomens auseinander und entwickelten die Vorstellung von einer Dreiteilung (Trias) aus Sprach- und Kommunikationsfähigkeit – Sprache – Sprechen (Abb. 9)(Lüdtke 2012a).
von Humboldt, de Saussure und Chomsky
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) unterscheidet bereits ergon (Sprache als Werk) und energeia (Sprache als Tätigkeit). Ferdinand de Saussure (1857-1913) differenziert zwischen der menschlichen Sprachfähigkeit (faculte de langage), der Sprache (langue) und dem Sprechen (parole). Der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky (geb. 1928) wiederum verwendet die Begriffe Kompetenz (allgemeine Sprachfähigkeit) und Performanz (individuelle Sprachverwendung). Unabhängig von diesen terminologischen Unterschieden ist an dieser Dreiteilung wichtig, dass die Mehrdimensionalität der Sprache wie folgt gefasst werden kann:
1 Sprachlichkeit: Die Komponente „Sprach- und Kommunikationsfähigkeit“ umfasst die personale Dimension der Sprachlichkeit, d.h. die besondere Art und Weise des Menschen als sprechendes Wesen.
2 Sprachsystem: Die Komponente „Sprache“ umfasst die Dimension des Sprachsystems, d.h. die „unsichtbare“ mentale Repräsentation von Sprache sowie ihre Planung und Verarbeitung.
3 Sprachhandlungsvorgang: Die Komponente „Sprechen“ umfasst die Dimension des konkret realisierten Sprachhandlungsvorgangs, d.h. die pragmatische beobachtbare Anwendung.
Diese Dreiteilung ist die Basis jeglicher Diagnostik und Intervention bei Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation, da durch diese Differenzierung ermittelt werden kann, welche Komponente(n) der Sprache einer Person aufgebaut und verfügbar und welche von Beeinträchtigungen betroffen sind Eine förderdiagnostische Betrachtung unseres Fallbeispiels 3 Bastian (Kap. 1). müsste beispielsweise folgende Aspekte klären (Abb. 10):
1 Ist Bastian in seiner Sprachlichkeit beeinträchtigt? Dies wäre der Fall, wenn sein Störungsbewusstsein so tief und nachhaltig ist, dass seine sprachliche Identität zu zerbrechen droht.
2 Liegt Bastians undeutlicher Aussprache ein Problem auf der Ebene des Sprachsystems zugrunde? Dies könnte dann eine phonologische Sprachentwicklungsstörung z.B. aufgrund einer phonematischen Differenzierungsschwäche sein (Kap. 5).
3 Oder hat seine Aussprachestörung ihre Ursache eher auf der Ebene des Sprechens als Handlungsvorgang? Dann wäre dies ein Hinweis auf eine phonetische Aussprachestörung z.B. aufgrund einer myofunktionell bedingten Artikulationsschwäche (Kap. 5).
Abb. 10: Die Mehrdimensionalität der Sprache in ihrer Ganzheit als Grundlage sprachpädagogischer und sprachtherapeutischer Aufgabenstellungen
Unabhängig davon, welche Komponente(n) der Sprache einer Person beeinträchtigt sind und der Unterstützung bedürfen, muss bei sämtlichen Aufgabenstellungen nicht additiv ein bestimmtes Störungsbild diagnostiziert und eine dazu passende Sprachförderung oder Sprachtherapie geplant werden, sondern es muss zunächst ganzheitlich der Mensch in seiner beeinträchtigten Sprach- und Kommunikationsfähigkeit erfasst werden Der Mensch in seiner Sprachlichkeit ist der unabdingbare Kern unseres durch die Pädagogik geleiteten Faches und damit seine Ausgangsbasis und seine Zielkategorie zugleich (Abb. 9).
Im Folgenden werden wir aus sprachphilosophischer und anthropologischer Perspektive nur die erste Komponente der Sprachlichkeit weiter vertiefen. Den Komponenten von Sprache als System und Sprechen als Sprachhandlungsvollzug wird in Kap. 5weiter nachgegangen
2.2.2 Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als Auftrag und Verantwortung
 
Die nachfolgenden Überlegungen gehen der anthropologisch relevanten Frage nach, welche Auswirkungen sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen auf das betroffene Individuum, die Gesellschaft und die Kultur haben und welche Veränderungen daraus resultieren (Lüdtke 2012a). Daraus folgernd werden jeweils (sprach)pädagogische Prämissen skizziert, wie innerhalb pädagogischer Bildungsprozesse mögliche personale Beschädigungen verhindert oder aufgefangen werden können. Die Kernidee, die Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als grundsätzlichen Auftrag und Verantwortung unseres pädagogisch geleiteten Faches zu betrachten, wird im nachfolgenden Unterkapitel über die pädagogischen Grundlagen (Kap 2.3)weiter ausgeführt
Individuum: Integration sprachlicher Identität
Personwerdung: De- und Rekonstruktion des sprachlichen Selbst
Grundsätzlich stellt die Philosophische Anthropologie Überlegungen zur Stellung des Menschen als sprachfähigem Wesen an. Eine erste Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen aus anthropologischer Sicht erfolgt auf der Ebene des Individuums bzw. des Selbst mittels des zentralen Konzeptes der „Sprachlichen Identität“ (Lüdtke 2012a). Diese wird hier postmodern als permanente De- und Rekonstruktion des sprachlichen Selbst zwischen den Achsen Zugehörigkeit / Abgrenzung und Selbstwahrnehmung / Fremdwahrnehmung konzeptualisiert und ist unabdingbare Voraussetzung der Personwerdung (Abb. 11).
Schon in einem Lebensvollzug ohne sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen ist sprachliche Identität das Ergebnis eines inter- und intrapersonalen sozio-emotionalen Balanceaktes und Integrationsprozesses, in dem alltägliche Konflikte, Widersprüche, Divergenzen und Disharmonien zwischen internen und / oder externen sprachspezifischen Fremd- und / oder Selbstbildern aufgelöst werden müssen
Depersonalisierung: Kohärenz-Auflösung und Identitätszerfall
Die auftretende sprachlich-kommunikative Beeinträchtigung eines Menschen führt aber meist zu einem folgenschweren Teufelskreis: Der Mensch verletzt durch seine Beeinträchtigung massiv die gesellschaftlichen Sprachnormen Die Gesellschaft sanktioniert den Affront gegen die kollektiven Spracherwartungen mit Stigmatisierungs- bzw. Ausgrenzungsprozessen. Diese negativ erlebten individuellen oder institutionellen Erfahrungen haben Stigmaqualität, da sie als Bedrohung des sprachlichen Selbst interpretiert werden. Diese Bedrohlichkeit verursacht Irritationen in den Interaktionen, Einschränkungen der verbalen Partizipation und letztlich emotional hoch bedeutsame sprachspezifische Identitätsprobleme Die dadurch erlebte Gefährdung kann die Gefühle der Verlorenheit und KohärenzAufl.ösung bei empfundenem Identitätszerfall hervorrufen und mittelfristig zu einer beschädigten sprachlichen Identität und damit letztlich zu einer Depersonalisierung führen (Abb. 11).
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