Anne-Laure Daux-Combaudon / Anne Larrory-Wunder
Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue
Syntaktische, semantische und textuelle Aspekte / Aspects syntaxiques, sémantiques et textuels
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8386-4 (Print)
ISBN 978-3-8233-0246-9 (ePub)
Irmtraud Behr
Zum 67. Geburtstag
Die in diesem Band enthaltenen Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Juni 2018 an der Universität Sorbonne Nouvelle anlässlich des 65. Geburtstags unserer Kollegin, Prof. Dr. Irmtraud Behr, stattfand. Von den verblosen Sätzen über „parenthetische Einschübe“ (vgl. Spitzl-Dupic 2018) und „fragmentarische Äußerungen“ (vgl. Marillier / Vargas 2016) bis hin zu den Schildern im öffentlichen Raum liegt ein Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Irmtraud Behr auf sprachlichen Formen, die als ‚kurz‘ bezeichnet werden können. Solche kurzen Formen kommen ohne die üblichen Satzmittel (z.B. finites Verb) aus, setzen besondere deiktische Mittel ein und weisen komplexe Beziehungen zum Kontext auf. Als ‚regelabweichende Strukturen‘ bilden sie eine Herausforderung für wort-, satz- und verbzentrierte Beschreibungsmodelle der Sprache und zwingen zu neuen Wegen (s. die Liste der Publikationen von Irmtraud Behr S. 383).
Bei ‚kurzen Formen‘ handelt es sich zwar weder um einen wissenschaftlich klar abgegrenzten, noch um einen fest etablierten Begriff. Im Unterschied zu dem anscheinend nahestehenden, viel diskutierten Begriff der ‚Ellipse‘ (vgl. Hennig 2013) klingt der Begriff ‚kurze Form‘ sogar nach einem relativ ‚theoriefreien‘ Forschungsgegenstand. Doch sprachliche Kürze bildet andererseits „eine der klassischen Kategorien von Rhetorik und Stilistik“ (Gardt 2007: 70) und wohl deswegen durchaus ein Phänomen, das im kollektiven Sprachbewusstsein präsent ist (vgl. Bär / Roelcke / Steinhauer 2007 oder Balnat 2013: 82) und Gegenstand sprachkritischer, normativer, grammatischer und epilinguistischer Diskurse ist. ‚Kurze Formen‘ zu thematisieren bedeutet oft, dass man sie mit „längeren Formen“ paraphrasiert oder vergleicht, da ‚Kürze‘ nur eine relative Größe ist. Die Frage stellt sich, was hinter solchen Vergleichsversuchen steckt, warum und wozu überhaupt ‚kurze‘ sprachliche Formen mit ‚langen‘ verglichen werden und warum sie besonders herausgestellt werden. Oft dienen solche Vergleiche dazu, in rhetorisch-stilistischer Tradition Wertungen und Empfehlungen vorzunehmen, denn kurze Formen gelten einerseits als ökonomisch und prägnant, andererseits bergen sie die Gefahr der fehlenden Deutlichkeit und Klarheit – wenn man auf die Rezipienten und deren nötige Mitarbeit fokussiert. Eine weitere Frage ist, ob eine als kurz bezeichnete Form „an sich“ kurz ist oder ob sie als Kürzung einer umfangreicheren Form analysiert werden sollte. Die aktuelle Forschungstendenz (s. dazu auch Baldauf-Quilliatre 2016) geht eher dahin, kurze Formen nicht als defizitäre Formen anzusehen, sondern ihrem eigenen Potential für die Realisierung besonderer kommunikativer Zwecke und textueller Funktionen unter Einbeziehung des außersprachlichen Kontextes auf den Grund zu gehen. In solchen Debatten nimmt das Phänomen der Verblosigkeit eine gesonderte Stellung ein, da ein Grundverständnis von Satz und Syntax an das Verb gebunden ist, welches durch das Fehlen der verbalen Einheit erschüttert zu werden scheint. Über das Thema ‚Verblosigkeit‘ hinaus ergibt sich die Frage, was zur elementaren Gliederung eines Satzes gehört, was zum Ausdruck eines Gedankens in Form eines Satzes notwendig ist und ob konkurrierende Satzmodelle bestehen können bzw. sollten.
Die Debatte um den Stellenwert kurzer Formen in der Sprachtheorie bildet den Ausgangspunkt des Bandes: Friederike Spitzl-Dupicgeht der Diskussion über ‚Vorzüge‘ und ‚Nachteile‘ kurzer sprachlicher Formen in der deutschen Grammatikographie des 18.–19. Jahrhunderts nach, wobei diese Diskussion im damaligen sprachrachpolitischen Kontext zu situieren ist, wo das Deutsche mit den Referenzsprachen Latein und Französisch verglichen wird. Am Beispiel zweier Grammatiker, Hempel und Götzinger, werden zwei unterschiedliche Ansätze präsentiert: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit wieder. Götzinger dagegen integriert Sprecher- und Hörerperspektive sowie die Rolle des Kontextes, unterscheidet verschiedene grammatische ‚elliptische‘ Strukturen und versucht kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer Formen zu identifizieren. Sein Ansatz bildet, so Spitzl-Dupic, den „Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt“.
Der Beitrag von Mikhail Kotinund Monika Schönherrfokussiert auf die Verblosigkeit als Merkmal infiniter und afiniter Strukturen. Es geht den Autoren in einer typologischen und universalgrammatischen Perspektive darum, solchen infiniten und afiniten Syntagmen „vollen Satzwert“ zuzuweisen. Infinite Strukturen werden einerseits als coverte bzw. overte Ellipsen interpretiert, andererseits als „nichtelliptische Kompressionen“ analysiert. Daran anknüpfend werden diachronische Aspekte untersucht: Es wird gezeigt, dass sich bei der Verwendung afiniter Strukturen als ‚syntaktische Kurzformen‘ in der Diachronie sowie in der Gegenwartssprache stilistische und pragmatische Faktoren nachweisen lassen.
Odile Schneider-Mizonygeht den ‚Haltungen‘ und ‚Träumereien‘ der Sprecher (Philosophen, Rhetoriker, Sprachwissenschaftler…) auf die Spur, in denen Mythen und Topoi zur Sprache erscheinen. Die sprachliche Kürze ist Gegenstand ethischer, poetischer, sprachhistorischer Überlegungen, in denen die Vorzüge und Nachteile von kurzen Formen hinsichtlich Wahrheit, Effizienz, Eleganz, Höflichkeit, Klarheit, Prägnanz, Aufwand … abgewogen werden. Insgesamt genießt sprachliche Kürze, zumindest im europäischen Sprachbewusstsein, einen positiven Ruf, was aber eher auf einer instrumentalen Auffassung von Sprache beruht.
Ähnlich wie verblose Sätze stellen auch sogenannte ‚eingliedrige Sätze‘ eine Herausforderung an das Verständnis von Sätzen und ihrer Funktion dar. Frank Liedtkezeichnet die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen in wissenschaftshistorischer Perspektive nach, ausgehend von Autoren, die von der Auffassung der notwendigen Zweigliedrigkeit Abstand nehmen (Miklosich), bzw. die für solche Strukturen ein unbestimmtes Subjekt (Wundt) oder zumindest die Verknüpfung zweier Vorstellungen (Paul) annehmen und eingliedrigen Sätzen einen eigenständigen Platz in der Sprachtheorie einräumen (Martys „thetische Aussagen“), bis hin zu modernen Debatten um die Ergänzung indexikalischer Elemente als „unartikulierte Konstituenten“ in der semantischen Repräsentation (Perry, Stanley / Szabo, Récanati).
Katharina Muchauntersucht minimale Formen der ‚Zweigliedrigkeit‘,nämlich solche Sätze, bei denen ein zugrundeliegendes Schema des Typs x ≆ y angesetzt werden kann ( Die Schildkröte ist weise / Der Elefant ist fröhlich / Surfen ist cool / Koch zu sein, ist der lukrativste Job der Welt / Loving you is killing me etc.) und unterscheidet dabei verschiedene Typen von Prädikaten und kopulativen Relationen, die sie in Verbindung setzt mit Wissensrepräsentationen in der mentalen Abspeicherung (semantisches vs. episodisches Gedächtnis) und mit denen sie die Möglichkeit verschiedener Perspektivierungsleistungen in Bezug auf Givenness / Newness verknüpft.
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