Annamária Fábiánführt eine exemplarische Beleganalyse von verblosen Sätzen in Sozialen Medien am Beispiel der #MeToo-Bewegung durch. Sie stellt zunächst fest, dass verblose Sätze trotz der Studie von Behr / Quintin (1996) weiterhin geringe Berücksichtigung in Grammatiken finden wie auch in korpuslinguistischen Studien. Mit Blick auf die quantitative Begrenzung der Zeichenzahl bei Twitter sind aber kurze Sätze bzw. verblose Sätze ein besonders relevanter Untersuchungsgegenstand. Fábiáns Analysen zeigen, dass verblose Sätze in den Sozialen Medien nicht ausschließlich aus sprachökonomischen Gründen eingesetzt werden, und dass es Korrelationen zwischen verblosem Satz und Emotionalität gibt, im Zusammenhang mit ‚kommunikativen Praktiken‘ wie: Offenbarung des eigenen Missbrauchs, Verurteilung von Gewalt gegenüber Frauen, Aufforderung zum juristischen Vorgehen gegen sexuelle Belästigung, Äußerung von männlichen Ängsten vor falschen Anschuldigungen. Für den Gebrauch von verblosen Sätzen in Tweets sind auch pragmatische, expressive Gründe zu nennen. Die große grammatische, syntaktische und funktionale Vielfalt der verblosen Sätze im Korpus bestätigt außerdem die Heterogenität der Kategorie ‚verbloser Satz‘.
Im Rahmen eines framesemantischen Ansatzes analysiert Zofia Berdychowskaeine Auswahl von multi- und intermodalen Kurzformen im öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Bedeutungskonstitution. Sie zeigt, dass mehrere Faktoren dabei eine zentrale Rolle spielen: Mehrfachadressierung, Instantiierung von Frame-Elementen und Zuweisung von Rollen, Wissen um routinisierte Handlungen, Standort. Exemplarisch werden Beispiele komplexer ‚Kommunikationsangebote‘ im öffentlichen Raum analysiert, die den Bewegungsframe spielerisch benutzen.
Igor Trostführt eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Untersuchung von zwei statistisch signifikanten Konstruktionsschemata in kurzen Textformaten der Wahlkampagnen 2017 in Deutschland und in Österreich durch. Analysiert werden kurze Konstruktionen der Form (x) für x und (x) Zeit x in Wahlslogans und Wahlplakaten, in Internettexten und in den Kurzprogrammen der deutschen und österreichischen Parteien hinsichtlich ihrer semantischen und pragmatischen Gebrauchsbedingungen sowie ihrer framesemantischen Implikationen. Trost zeigt, dass die Konstruktion (x) für x (z.B. Für ein Deutschland, in dem wir gut und gern leben (CDU), Für Sicherheit und Ordnung (CDU), Klar für unser Land (CSU)) es ermöglicht, positiv konnotierte Wörter – wie z.B. Qualitätsadjektive, positive Schlagwörter – für „die Bildung eines wählerorientierten positiven parteipolitischen Gesamtframes“ zu nutzen. Die Konstruktion (x) Zeit x (z.B. Zeit für mehr Gerechtigkeit (SPD), Es ist Zeit für moderne Ausbildung (SPD), Österreich ist erfolgreich. Zeit, dass Sie davon profitieren (SPÖ)) steht stellvertretend für eine in Wahlkämpfen häufig genutzte framekonstituierende Zeitmetaphorik eines dringenden Handlungs- und Änderungsbedarfs, der zur Wahl der entsprechenden Partei motivieren soll.
Heike Romothbeschäftigt sich mit dem Wahlslogan als Kurztext. Da der Wahlslogan räumlich begrenzt ist, bevorzugt er kondensierte Strukturen. D.h. ein großer Teil der Informationen bleibt implizit, und die Wahlbotschaft muss vom Adressaten (re)konstruiert werden. Am Beispiel von Wahlslogans zur Bundestagswahl 2017 zeigt Heike Romoth, dass der Adressat dafür über das semantische Wissen hinaus auch über enzyklopädisches Wissen (politisches Sachwissen) und Textsortenwissen verfügen muss. Die Konstruktion der Bedeutung der Wahlslogans erfolgt im Rahmen einer Interpretationsstruktur. Mit dem Wahlslogan wird für ein Programm geworben, in dem das zukünftige politische Handeln der Parteien und Politiker angekündigt wird. Aufgrund der Leerstellen des Rahmens ‚Handlung‘ (Mitspieler, Motiv, Ziel usw.) weiß der Adressat, welche Informationen zu ergänzen sind. Allerdings bleibt häufig offen, ob Sachverhalte aufgrund der räumlichen Begrenzung oder aufgrund der politischen Korrektheit implizit bleiben.
Im vierten Teil des Bandes werden Phänomene der semantischen Verdichtung behandelt. Es geht einerseits um Wortbildung bzw. Kofferwörter und Nominalkomposita, andererseits aber auch um stereotypisierte kurze Äußerungen, in denen ein kulturelles Element zum Ausdruck kommt. Dabei wird nicht nur die Frage nach der lexikalischen und syntaktischen Festigung von kurzen Formen aufgeworfen, sondern auch die Frage nach deren Eingang ins Lexikon. Warum bleiben einige kurze Formen Okkasionalismen? Wie kann man dagegen erklären, dass andere kurze Formen sehr produktiv sind, d.h. wieder aufgenommen werden, zu weiteren serienhaften Schöpfungen führen oder sogar zu Gegenproduktionen?
Anlass zum Beitrag von Ricarda Schneidersind dem Englischen entlehnte Wortkreuzungen, wie manterrupting , mansplaining , manspreading , die in angelsächsischen, deutschsprachigen oder auch französischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken kursieren. Diese Kurzformen sind Kofferwörter an der Schnittstelle zwischen Lehnwort, Anglizismus und Neologismus. Im Beitrag geben sie Anstoß zu Überlegungen über den Begriff ‚Kofferwort‘, seine Herkunft und über die Funktionen von Wortkreuzungen. So können beabsichtigte Kontaminationen über ihre spielerisch-kreative Funktion hinaus die Funktion der Sprachökonomie erfüllen. Die Analyse der englischen Neologismen mit dem Schema man + eng. Verb + -ing lässt erkennen, dass solche Wortkreuzungen besonders knappe Formen zur Nominalisierung komplexer Vorgänge und Phänomene sind, mit denen neue, oft komplexe Erscheinungen, Verhaltensweisen und Lebensstile kurz und bündig benannt werden. Sowohl die Bildung als auch die Entschlüsselung dieser Kofferwörter, die zum Teil genderspezifische Verhaltensweisen bezeichnen, sind in der Regel kontextabhängig. Dies verhindert aber nicht eine gewisse Einbürgerung dieser Lehn-Kofferwörter, wie auch Piktogramme aus dem öffentlichen Raum bezeugen.
Michel Lefèvreuntersucht ‚sprachliche Miniaturen‘ am Beispiel von österreichischen Kriminalromanen. Dabei erweitert er die Definition von Bock / Brachat, indem ‚sprachliche Miniaturen‘ nicht auf Sprichwort und Witz beschränkt werden, sondern sprachliche Kurzformen bezeichnen, die typisierte Redensarten und kulturelle Stereotype verknüpfen. Dies schließt Phraseme, Slogans, Routinewendungen und anscheinend „freie“ Äußerungen mit der Partikel „ja“ ein. Bei seiner Suche nach sprachlichen Einheiten, die Kultur und Sprache in sich vereinen bzw. die auf ein kulturelles Hintergrundwissen verweisen, wirft Lefèvre die Frage nach der Ermittlung von formalen Merkmalen auf, ohne sich auf die Kriterien zu beschränken, die üblicherweise in der Phraseologie berücksichtigt werden.
Delphine Pasquesnimmt eine ausführliche Analyse des zweisilbigen althochdeutschen Nominalkompositums liût chuô vor, das als kurze, implizite Form „Menschen“ ( liût ) und „Kälber“ ( chuô ) in Verbindung bringt. Der einzige Beleg für dieses Kompositum befindet sich im Psalter , Notkers Psalmenübersetzung ins Althochdeutsche aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts. Über eine Kontextualisierung der Okkurrenz hinaus führt Pasques eine semantisch-referentielle Analyse der Zusammensetzung durch und zeigt, dass sie aufgrund ihrer impliziten Dimension unterschiedliche Interpretationen (wortwörtlich oder allegorisch) zulässt. Um zwei Interpretationsniveaus zu bewahren, greift Luther im 16. Jahrhundert zu einem Kommentar, der die Analogie zwischen Kälbern und Völkern explizit herstellt. In anderen Übersetzungen werden appositive Strukturen eingeführt. Es lässt sich ein einziges weiteres Kompositum finden, und zwar Völkerkälber in einem Text aus dem 19. Jahrhundert. In einer pragmatischen Analyse von liût chuô macht Pasques außerdem deutlich, dass Notker die Kürze der Zusammensetzung zur religiösen Erbauung nutzt: Die ungewöhnliche kurze Form wirkt rätselhaft, überrascht den Leser und lässt ihn nach einer Interpretation suchen.
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