Claudia Schweitzer
Die Musik der Sprache
Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert
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ISBN 978-3-8233-8493-9 (Print)
ISBN 978-3-8233-0343-5 (ePub)
„Die Musik ist eine Sprache, keine konventionelle oder lokale, wie das Griechische, das Lateinische, das Französische oder andere Sprachen, sondern eine, die natürlich und allgemein verständlich ist.“
„La musique est une langue, non de convention, non locale, comme le grec, le latin, le français et autres, mais une langue naturelle et de tous pays.“
Jérôme-Joseph MOMIGNY (1806: 29)
Die menschliche Stimme und ihre – wie es scheint – unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten faszinieren. Eine Stimme ist in der Lage, eine Welt in uns zu berühren, die abstrakt und metaphorisch zugleich ist. „Der Klang der Stimme verrät den Zustand der Seele“, sagt der 1950 geborene österreichische Ingenieur und Maler Helmut Glassl. Für den deutschen Philosophen und Pädagogen Andreas Tenzer (*1954) sind Stimmen „hörbare Schwingungen“ und der französische Philosoph und Enzyklopädist Denis Diderot (1713–1784) bezeichnet bereits im 18. Jahrhundert die Stimme als „ein Musikinstrument, dessen sich alle Menschen ohne die Hilfe von Lehrern, Prinzipien oder Regeln bedienen können“.1
Die Stimme und ihre Klänge hängen von der Sprechsituation, von der gewollten Ausdruckskraft und vom seelischen Zustand des Sprechers oder der Sprecherin ab. Heute haben Neuro- und Psycholinguistik die Möglichkeit, mit gezielten technischen Mitteln an diesen Zusammenhängen zu arbeiten. Im Vergleich zu sprachwissenschaftlichen Überlegungen, die bereits aus der Antike überliefert sind, sind diese Möglichkeiten jedoch extrem jung. Lange Zeit waren Stimme und Sprache vorwiegend über den Gehörsinn zugänglich . Le jugement de l’oreille bildete somit einen wichtigen Faktor für die Wahrnehmung und für die Analyse sprachlicher Phänomene. Anders als Überlegungen anhand schriftlicher Texte (zum Beispiel zu Syntax oder Lexik) stellen die Stimme und die von ihr übertragenen Laute oder Worte den Forscher vor das Problem, dass sein Forschungsobjekt, das heißt die Sprachlaute, vergänglich und ohne Aufnahmemöglichkeit einmalig und nicht reproduzierbar ist.
Oftmals haben die französischen Forscher vergangener Jahrhunderte auf die Gesangsstimme zurückgegriffen, die im Vergleich zur Sprechstimme eine (geringfügig) größere Stabilität der Laute zu versprechen schien. Denis Dodart, seines Zeichens Arzt, konstatiert zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine hohe Affinität von Sprech- und Gesangsstimme, da beide auf demselben physischen Mechanismus beruhen.2 Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques weist ebenfalls auf die große Ähnlichkeit zwischen Sprache und Gesang hin. Er spürt zwar einen kleinen Unterschied, der aber schwierig zu beschreiben ist.3 Die Eigenschaft, etwas länger anzudauern, macht die gesungenen Töne in den Augen der Theoretiker jedoch zu einem geeigneten Studienobjekt (vgl. Schweitzer, 2018).
Auch heute noch wird die Verwandtschaft von Sprache und Gesang als tiefgreifend angesehen. Sprache ist melodisch, rhythmisch und akzentuiert, genau wie jede musikalische Produktion. Musik und Sprache werden ausdrucksstark durch dieselben Parameter: diejenigen, die wir als prosodisch bezeichnen. Sprache ist nicht nur in der Poesie, sondern in jeglicher Form von Äußerung musikalisch. Diese „Musik der Sprache“ wird deutlich, wenn Sprache klingt, und dies nicht nur in gesungener Form, sondern auch als gesprochenes Wort.
Heute untersuchen Prosodisten diese „Musik der Sprache“ und sie unterscheiden dabei drei Parameter: Tonhöhe (Grundfrequenz) oder Tonhöhenentwicklung (Melodie), Tonlänge (Rhythmus oder Tondauer und Pausen) und Intensität (Volumen und Akzentuation). Diese Parameter haben ihren Ursprung in der Beschreibung der Singstimme, und eine gemeinsame Metasprache von Musikern und Prosodisten (Terme wie zum Beispiel „Rhythmus“, „Melodie“ oder „Akzent“ werden in beiden Disziplinen verwendet) weist noch heute auf die gemeinsamen Wurzeln dieser beiden Ausdrucksmöglichkeiten hin (vgl. Dodane et al., 2021).
Es ist typisch für die vergangenen Jahrhunderte, dass die Erforschung der Stimme und der Sprachlaute nicht allein eine sprachwissenschaftliche Angelegenheit war. Das Phänomen interessierte mehrere Disziplinen, die das Thema auf unterschiedliche Weise, mit eher praktischen, eher theoretischen, eher experimentellen oder eher reflexiven Methoden bearbeiten. Aus diesem Grund scheint es für die Erforschung der Wirksamkeit und der Wirkungsweise menschlicher gesprochener Sprache unabdingbar, zwei Ansätze zu berücksichtigen: einen wissenschaftlichen und einen philosophischen.
Um die heute übliche Definition der Prosodie als „Gesamtheit sprachlicher Eigenschaften wie Akzent, Intonation, Quantität, Sprechpausen“ (Bußmann, 1990: 618) zu finden, waren viele Überlegungen in verschiedene Richtungen und sogar Umwege nötig. Im Laufe der Jahrhunderte sind alle genannten Parameter mehr oder weniger intensiv untersucht worden. Zunächst spielten prosodische Überlegungen in den poetischen Ausdrucksformen gewidmeten Disziplinen eine Rolle (Dodane et al., 2021). Besonders die Quantität (Vokal- oder Silbenlänge) bildete oftmals ein wichtiges Studienobjekt. Erst mit dem Erscheinen der Grammaire générale et raisonnée von Antoine ArnauldArnauld, Antoine und Claude LancelotLancelot, Claude (1660) findet das Thema auch Eingang in den Kanon der regelmäßig in den Grammatiken behandelten Themen. Besonders die Überlegungen Denis VairasseVairasse d’Allais, Denis d’Allais‘ (1681) bedeuten hier einen großen Fortschritt: Der Autor berücksichtigt nicht nur die beiden mittels des Hörsinns relativ leicht zugänglichen Parameter Rhythmus und Quantität, sondern spricht in dem den Akzenten gewidmeten Kapitel auch von ton und emphase .
Im 18. Jahrhundert bilden sich zwei Haupttendenzen heraus. Die eine konzentriert sich auf die Prosodie der französischen Sprache und versucht, deren Besonderheiten im Vergleich zu anderen Sprachen herauszuarbeiten. Ein Beispiel dafür ist der Traité de la prosodie françoise des Abbé D’OlivetD’Olivet, Pierre Joseph (1736). Die zweite versucht, Parallelen zwischen den verschiedenen Sprachen und ihrem prosodischen Verhalten aufzudecken. Sie gliedert sich damit in die Richtungen der grammaire générale 4 und der grammaire comparée ein. Auch im Bereich der Rhetorik bleiben Fragen der Quantität wichtig. So spricht noch Jean-Dominique VuillaumeVuillaume, Jean-Dominique (1871) von der Wichtigkeit der Beachtung der richtigen Quantität für eine gute „prononciation grammaticale et prosodique“.5
Doch erst bei den frühen Phonetikern wird die Prosodie im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Forschungsthema. Mit der auf Etienne-Jules Marey (1830–1904) zurückgehenden Graphischen Methode wird um die Jahrhundertwende die Analyse der verschiedenen Parameter auf experimenteller Basis möglich. Jean-Pierre RousselotRousselot, Jean-Pierre arbeitet so über Intonation, Akzentuation und Rhythmus der französischen Sprache. Hector MarichelleMarichelle, Hector gelingt eine mathematische Kurvenanalyse der Formanten und die experimentelle Unterscheidung von accent tonique und accent oratoire . Paul PassyPassy, Paul Edouard stellt in einem komparatistischen Ansatz die Intonationen verschiedener Sprachen, darunter des Französischen, einander gegenüber, und Léonce RoudetRoudet, Léonce beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Intonation, Emotion und Logik sowie deren Auswirkungen auf die Sprachakzentuation.
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