Mit diesem Hintergrund stellt der vorliegende Ansatz einen Versuch dar, derlei wirksame Haltungen aus humanwissenschaftlicher Sicht zu beleuchten, Möglichkeiten zu sondieren, Menschenbilder anzureichern, Weltanschauungen zu erweitern, Hintergrundtheorien verschiedener Verfahren unter philosophischem Dach zu einem integrativen Ansatz zu verbinden. Die Integrative Therapie versteht sich dabei nicht als grundlagenwissenschaftlicher Ansatz, sondern als forschungsgegründete Form konnektivierender, schulenübergreifender und an der longitudinalen Entwicklungspsychobiologie ausgerichteter Humantherapie, die in ihrer Entwicklung prinzipiell als nicht abgeschlossen gilt, sondern im Fluss der Forschung neue Erkenntnisse aufnehmen sowie zum Teil überholte auch korrigieren kann (Petzold, 2011; Leitner, 2010).
Sie ist interdisziplinäre Anwenderin natur- und humanwissenschaftlicher Ansätze – darunter fallen insbesondere auch kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Theorien –, die unterschiedliche Diskurse, die im Wissenschaftsbetrieb selbst mitunter wenige Berührungspunkte haben, in transversale Passungen zu bringen versucht. Dies soll nicht andeuten, dass im vorliegenden Buch empirische, psychotherapeutische und diagnostische Modelle wissenschaftlich miteinander verglichen werden. Vielmehr sollen Ergebnisse vergleichender Prüfungen und Entwicklungen 4, wie sie im Paradigma integrativen Denkens seit über 60 Jahren vorgenommen wurden, in ihrer Anwendung auf ein Praxisfeld dargestellt werden – eben auf die „Integrative Psychotherapeutische Diagnostik“ (IPD). 5
2 Was bedeutet „Integration“?
Was ist mit dem Begriff „Integration“ gemeint und wie wird er in dieser Arbeit definiert? Bei Sichtung unterschiedlicher klinischer Ansätze, etwa dem psychodynamischen, den lern- und stresstheoretischen oder den systemischen, wird gleich evident, dass hier jeweils unterschiedliche Vorstellungen vom Aufbau der Person und ihren Funktionsweisen zugrunde liegen, die dann natürlich in ein differenzielles Verständnis der Ätiologie von Störungen und somit auch in unterschiedliche Behandlungsansätze führen. Obwohl durch vergleichende Untersuchungen, etwa ätiologischer Theorien, zweifellos Schnittmengen ausgemacht werden können, geht es in der Auffassung integrativen Denkens nicht um eine eklektische Zusammenstellung von Überschneidungsbereichen.
Der Begriff „Integration“ wird hier in ein Verständnis gerückt, das strenge Prüfungen unterschiedlicher Theorien und Praktiken hin auf ihre Kompatibilität untereinander vorsieht, sowohl auf der Ebene empirischer Ansätze als auch auf der klinischer Interventionen. Eine Besonderheit des Verfahrens, das hier zugrunde liegt, besteht darin, dass seine klinischen Theorien auch auf ihre Vereinbarkeit mit einem von mehreren Seiten her humanwissenschaftlich abgestützten Menschenbild hin überprüft werden. Dies stellt ein Programm dar, das gegen die Tendenz der Hochleistungsgesellschaft arbeitet, den Menschen bloß noch als Kategorie des Biologischen oder Psychologischen anzusehen (Steinfath, 2001). Will man etwas vom einzelnen Menschen verstehen, wird man versuchen, etwas mehr von der Vielfalt des Menschseins an sich zu verstehen. Auch wenn diese Frage als unabschließbar gilt, wird sie hier erörtert werden. Zu den Disziplinen, die aus diätetischen Gründen hier mehr oder minder essayistisch ausgeführt werden, gehören die philosophische Anthropologie – insbesondere mit der Leibphilosophie und der Philosophie des Geistes –, die Sozial- und Kulturphilosophie, die Phänomenologie sowie Bewusstseins- und Erkenntnistheorien.
Die Integrative Therapie spricht in diesem Zusammenhang von „Integratoren“, die in einem gestuften Modell von Theorien mit unterschiedlicher Reichweite geordnet werden: small scale theories, middle scale theories und large scale theories. Unter small scale theories werden hier konkrete, anwendungsbezogene Methoden, Techniken und Medien verstanden, wie sie in Verfahren der Psychotherapie im Behandlungsverlauf, immer wieder kurz- und mittelfristig orientiert am Prozessverlauf, zur Anwendung kommen (Praxeologie). Diese Interventionen beziehen ihre Begründung aus middle scale theories (klinische Theorie), deren Reichweite theorie- und forschungsgegründet größer ist als jene der Interventionslehren. Das sind etwa die empirische Entwicklungs- und Sozialisationstheorie, Enkulturations- und Ökologisationstheorien, die Persönlichkeitspsychologie, die Gesundheits- und Krankheitslehre, speziell die der psychotherapeutischen Diagnostik. Praxeologische Interventionen müssen Kompatibilität mit diesen Wissensständen ausweisen können.
Trotz der größeren Reichweite von middle scale theories treten im Verlauf empirischer Bewegungen im Feld oder im Zusammenhang mit größeren Paradigmenwechseln in der Forschung theoretische und praxeologische Akzentverschiebungen auf, wie etwa zuletzt mit dem neurowissenschaftlichen Paradigma. Die Einbettung klinischer Theorien erfolgt entsprechend wiederum durch large scale theories , deren Reichweite groß und deren Veränderungsgeschwindigkeit vergleichsweise kleiner ist. Hier befinden wir uns im Bereich philosophischer Metatheorien. Nur unter einer solchen umfassenden Betrachtung ist es möglich, den Menschen, das menschliche Leben in seinen ökologischen Zusammenhängen vor der Eindimensionalität, dem Solipsismus (als ob völlig isoliert nur das Subjekt, das eigene Ich existierte), vor der Zumutung kurzatmiger klinischer und sozialer Diagnosen zu bewahren (Henrich, 2016).
Das entsprechende dreistufige Modell wird in der Integrativen Therapie tree of science genannt (Petzold, 2003a). Einen Überblick soll die folgende Zusammenstellung geben. Integratoren auf der Ebene der Praxeologie (small scale) etwa sind orientiert an klinischen Konzepten der Relationalität 6, an pluriformen Wegen der Heilung und Förderung 7, an Theorien zu netzwerkorientierten Alltags- und Arbeitskontexten 8sowie empirisch untersuchten therapeutischen Wirkfaktoren 9, einer ausgearbeiteten Interventionslehre 10mit indikationsspezifisch einsetzbaren Methoden, Techniken und Medien 11und Prozesstheorien 12, des Weiteren an Evaluations- und Qualitätssicherungskonzepten 13.
Zu den Integratoren auf der Ebene der klinischen Theorie (middle scale) gehören etwa die Gesundheitspsychologie 14, die Entwicklungs- und Sozialisationswissenschaften 15, die Persönlichkeitspsychologie 16, Identitätstheorien 17, Genderstudies 18, die Evolutionäre Psychologie 19, die Biologische Psychologie [Neurowissenschaften 20, Genetik 21und Epigenetik 22] sowie Ätiologieansätze verschiedener Psychotherapieformen [Tiefenpsychologie 23, Behaviorismus 24, Stress- und Traumatherapie 25], weiterhin Soziale Netzwerktheorien 26, Sozialpsychologische Theorien 27, Systemische Theorien 28und Theorien zur Transgenerationalität 29.
Praxeologie und klinische Theorie werden den Integratoren der Metatheorie (large scale) nachgeordnet. Zu diesen philosophischen Theorien gehören Kosmologie 30und Ontologie 31, die philosophische Anthropologie 32mit ihren Theorien zur multiplen Entfremdung 33, die Leibphilosophie 34, die Philosophie des Subjekts 35und der Identität 36, die Gesellschaftstheorie, Kultur- und Sozialphilosophie 37, die Phänomenologie 38, die Erkenntnistheorie 39, die Wissenschaftstheorie 40und die Ethik 41(Literaturangaben in dieser Übersicht finden sich in Kapitel VIIIund sind exemplarisch zu verstehen, sie bieten eine breit gestreute Auswahl mit jeweils auch integrativ-therapeutischen Leittexten).
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