Es folgten Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den Entwicklungswissenschaften (Osten, 2000), der Persönlichkeitspsychologie (Osten & Wörmer, 2006) und den ätiologischen Theorien (Osten, 2001), schließlich auch die Beschäftigung mit transgenerationalen Perspektiven der Persönlichkeitsentwicklung (Osten, 2009). Erste Arbeiten befassten sich mit der Anamnese, mit der Diagnostik bei Abhängigkeitserkrankungen und Trauma, auch unter Zuhilfenahme kreativer Medien, schließlich mit ersten Entwürfen zur Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (Petzold & Osten, 2000; Osten, 2011). Alle trugen die Vorstellung in sich, dass eine Diagnostik in der Psychotherapie beide Perspektiven integrieren, mehr noch, die ganze Komplexität des Menschen mit seinen subjektiven Erfahrungs-, Bedeutungs- und Verarbeitungssystemen erfassen müsse. Dazu schien mir das Verfahren der Integrativen Therapie mehr als geeignet und in der Lage.
Dysfunktionalität erschien hier in einem Verständnis der Einbettung des Psychischen in seine Leiblichkeit, die Leiblichkeit in ihrer Einbettung ins Soziale, Gesellschaftliche und Kulturell-Zeitepochale, Motivation und Verhalten wurden als Enaktivierung aus der hieraus entstehenden Dynamik verstanden, das Subjekt als Mitwirkender in dem ganzen Prozess – sowohl in funktionaler als auch in dysfunktionaler Hinsicht. Diese rekursive Perspektive auf den Menschen und seine Lebenswelt sollte diagnostisch erschließbar werden. Das Ergebnis dieser hier nur kurz skizzierten Geschichte halten Leserin und Leser nun in Händen.
Das erste Kapitel gibt eine kurze Einführung in die Geschichte der internationalen Integrationsbewegungen in der Psychotherapie und führt in das Denken einer „Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik“ (IPD) ein. Im zweiten Kapitel werden die Hintergründe der IPD dargestellt, und zwar in zwei sehr unterschiedlichen Aspekten. Der erste handelt für die Psychotherapie wesentliche Wissensgebiete der Klinischen Philosophie ab, die den Überbau des Verfahrens bilden: Leibphilosophie und philosophische Anthropologie (Menschenbild der Integrativen Therapie), Sozial-, Gesellschafts- und Kulturphilosophie, Philosophie der Person und schließlich die Erkenntnistheorie, als Voraussetzung für die Diagnostik. Im zweiten Aspekt werden klinische Grundlagentheorien der IPD dargestellt: Gesundheitspsychologie, Evolutionäre und Motivationspsychologie, Entwicklungs- und Persönlichkeitswissenschaften, Genderforschung sowie Theorien zur narrativen Struktur von Identität.
Im dritten Kapitel werden ätiologische Konzepte vorgestellt und nach den Möglichkeiten ihrer Anschlussfähigkeit an das Menschenbild der Integrativen Therapie hin untersucht. Dies führt schließlich zum „Modell der longitudinalen Akkumulation“ als phänomenologisch-hermeneutischem Gesundheits- und Krankheitsmodell des Integrativen Verfahrens. Das vierte Kapitel stellt den methodischen Aufbau der IPD dar und im fünften Kapitel werden alle Ansätze miteinander in die Praxis des konkreten diagnostischen Prozederes überführt. Im sechsten und letzten Kapitel wird die „Integrative Diagnose“ von ihrem strukturellen Aufbau her beschrieben und anhand eines Fallbeispiels exemplarisch durchgeführt. Das Werk verfügt zudem über umfangreiches Online-Material in Form von achtzehn Checklisten für die einzelnen Phasen der Diagnostik.
Ein editorischer Hinweis zur Form der Zitation: Literaturangaben hinter Gedankengängen bedeuten wie üblich, dass hier grundlegende Gedanken der jeweiligen Autoren eingeflossen sind oder der zuvor im Text genannte Gedanke von diesem Autor inspiriert wurde. Werden hinter diesem ersten noch weitere Autoren genannt, so deutet dies an, dass die Gedanken der nachstehenden Autoren in ähnliche Richtungen gehen oder kommentierend resp. aspektierend herangezogen wurden. Letzteres gilt auch bei direkten Zitaten.
Vielen Menschen gebührt mein Dank. Zuallererst gilt dieser meinen zusammengezählt knapp dreitausend Patienten und Patientinnen, die mir ihr Vertrauen schenkten und in biografischen Anamnesen ihr Leben, ihre Freuden und Leiden mit mir teilten. Unsägliches war hier zu hören und wertvoll zu lernen. Großen Dank möchte ich meinen Lehrern aussprechen, die mir halfen, aus meinen eigenen Labyrinthen herauszufinden und dieses wertvolle Verfahren zu studieren: Lore Schreiner, Georg Wiedemann, Hannelore Voss, Dörte Amt-Euler (†), Karin Huck, Jürgen Lemke, Doris Signer-Brandau, Hildegund Heinl (†), Werner Huth, Ilse Orth und Hilarion G. Petzold. Frau Victoria Tatzreiter vom facultas-Verlag betreute das Buchprojekt vom ersten Moment an mit großem Interesse und ihrer umwerfenden Freundlichkeit, was die Motivation stets aufrechterhielt. Dank und Anerkennung möchte ich auch meiner Lektorin, Frau Verena Hauser, aussprechen, die mit Feingefühl und kernigen Anregungen den Texten ihren letzten Schliff gab. Der größte Dank gilt meiner Familie, Carmen, Kathi, Rosanna, Severin, Amaya, Baileigh und James, die mich unterstützten und freiwillig auf mich verzichteten, während ich schrieb. Ohne deren Dasein und Liebe wäre eine solche Arbeit nicht möglich.
im Mai 2019 |
Peter Osten, München |
I Einführung: Das Integrationsparadigma
In diesem Kapitel wird in das zugrunde liegende Denken der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) eingeführt. Die Geschichte der Integrationsbewegungen in der Psychotherapie wird kurz erläutert, anschließend wird der Integrationsbegriff für das vorliegende Buch definiert. Eine erste Annäherung an die spezifische Form der hier vorgestellten psychotherapeutischen Diagnostik beschließt die Einführung.
1 Integrationsbewegungen in der Psychotherapie
In diesem Buch geht es um Formen psychotherapeutischer Diagnostik im Rahmen der Bewegung der „psychotherapy Integration“ 1, wie sie in Amerika in den 1960er Jahren eingesetzt hatte, im deutschsprachigen Raum durch Hilarion G. Petzold und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inauguriert wurde (Petzold, 1993; Steffan & Petzold, 2001), später durch die Gruppe um Klaus Grawe 2aufgegriffen und weiter beforscht wurde. Beiträge kamen auch von Rainer Bastine (1989) und Dieter Wyss (1982). In der Schweiz haben seit den frühen 1990er Jahren Andreas Blaser und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (1992) Integrationsansätze entwickelt. In Österreich ist es Josef Egger (2014), der mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fundierte Integrationsmodelle erarbeitet hat. Bedeutend in diesem Zusammenhang wurden später Fragen der dritten Welle in der Psychotherapie, insbesondere, ob es für die Vielfalt existierender humanwissenschaftlicher Ansätze ein transversales – das heißt quer und schräg durch viele Wissensbereiche verlaufendes – Fundament gebe, in dem ähnliche theoretische Diskurse zusammenfließen könnten, ohne dass wertvolle Pluralität zerstört würde (Petzold, Sieper & Orth, 2002; Sieper, 2006).
Prüfungen gemeinsamer Wirkfaktoren im Bereich der Psychotherapie 3schienen erste Orientierungen zu geben, blieben mit ihren Bemühungen aber noch an der performativen Oberfläche psychotherapeutischer Interventionen orientiert, ohne dass Heterogenität und Passung einzelner Hintergrundtheorien vergleichend gesichtet und gewichtet wurden. Outcome- und Evidenzforschungen zeigten im Vergleich diverser Verfahren bei unterschiedlichen Interventionsstilen und -techniken moderate Effekte (Wyl et al., 2016). Bei aller Heterogenität schienen Hintergrundtheorien mit ihrer jeweiligen Praxeologie also nicht den Unterschied auszumachen (Wampold, Imel & Flückiger, 2018).
Deutlichere Schwankungen zeigten sich dann in den persönlichen Kompetenzen und Performanzen von Therapeuten (Castonguay & Hill, 2017). Von den Hintergrundtheorien unabhängige Variablen wie Präsenz und Zentriertheit, Qualität des Bindungsangebots, menschliche Ansprechbarkeit, Empathie und Responsivität, Humor und Lebenserfahrenheit (,Weisheit‘), Kreativität und kulturelle Faktoren scheinen Therapieerfolge stärker zu befördern. Das ist im Grunde vielversprechend, aber die Bezeichnung persönlich verlagert in einen noch undefinierten Bereich, was durchaus aneignungsfähig wäre (Norcross, 2001). Wie können diese Qualitäten vermittelt und angeeignet werden?
Читать дальше