1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Dort aber wird nur der Körper behandelt. In der neuzeitlichen Medizin geht die Entfremdung von Leiblichkeit so weit, dass in Form evidenzbasierter Behandlungsleitlinien nicht mehr der Mensch, sondern nur noch die vermeintlichen körperlichen Ursachen von Funktionsstörungen medikamentös oder instrumentell manipuliert werden. Obwohl also die Stimmungen und Gefühle leiblich erfahren werden – sie den eigentlichen Grund zur Aufnahme einer ärztlichen Behandlung darstellen – und auch körperliche Schmerzen immer mit affektiver Betroffenheit einhergehen, richtet sich die Behandlung nicht mehr an den phänomenologisch wahrgenommenen Symptomen aus, die den Menschen unmittelbar betreffen.
Begriff und Vorstellung von Leiblichkeit heben mit diesen Überlegungen den Dualismus auf. Der Leib wird zum ersten, unhintergehbaren Ausgangspunkt der Verstehensweisen des Menschen. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Diagnostik und Therapie psychischer und psychosomatischer Krankheiten. Wenn der Leib die Einheit darstellt, die die Kategorien des Körpers, der Gefühle, des Geistes, der Erinnerung, der Wahrnehmungen, des Willens und des Verhaltens in das Bild einer einzigen, in sich komplex aufgebauten Entität fasst, ist es nicht mehr nötig, einen wie auch immer gearteten Übergang vom Geistigen ins Körperliche zu suchen. Rein phänomenologisch drücken sich Befindlichkeiten und Verstörungen des Menschen dann auf irgendeiner dieser Ebenen aus und sind nur noch drauf angewiesen, dass sie vom Subjekt oder von Spezialisten richtig verstanden und gedeutet werden, nämlich als vitaler Ausdruck des Lebendigen selbst. Von dort aus beginnt die Suche nach den Sinnimmanenzen von Symptomen auf dem Weg des Sicheinlassens auf die Kontingenz eigenleiblichen Spürens und auf intersubjektive Validierungen der Erfahrungen.
Dennoch bleibt es Aufgabe des Menschen, Körper und Leib zu integrieren. Das gilt für alle Aspekte naturwissenschaftlicher Erkenntnis, etwa der Anatomie und Physiologie, heute insbesondere für die Genetik und Epigenetik, die Resultate der Hirnforschung und der neurohumoralen Prozesse. Und es gilt natürlich auch für Identitätsprozesse, die zum Teil im eigenleiblichen Spüren wurzeln. Leiblichkeit kann nicht ohne ihre Bettung in soziale Kontexte und Ökologie, daher auch nicht ohne ihre Intentionalität gesehen werden. Merleau-Ponty (1966) sprach von einem „Sein zur Welt hin“. In dieser Form ist unsere gesamte phylogenetische Ausstattung auf die Anpassung an unsere Umwelten ausgerichtet (Stefan, 2019). Dies alles will in einen Selbstentwurf im Sinne der Leiblichkeit überführt werden (Petzold, 2011a).
Eingedenken der Natur im Subjekt
Die Philosophie der Neuzeit zeigt umgekehrt ein entschiedenes Desinteresse dem Thema „Natur“ gegenüber. Sie überließ dieses Feld lange Zeit kritiklos den empirischen Wissenschaften, so als hätte sie mit der Natur des Menschen nichts mehr zu tun. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde die Thematik wieder aufgegriffen, etwa durch Merleau-Ponty, Plessner, Buytendijk, Petzold, Waldenfels und Böhme. Böhme (1985) arbeitete das Programm des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“, das ursprünglich in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno formuliert wurde, für die Leibphilosophie weiter aus. Sein Diktum in der Sache ist, dass der „Leib die Natur ist, die wir selbst sind“ (ebd., 119ff.).
Was in leibphilosophischer Hinsicht als Natur verstanden wird, ist unterschieden von dem, was einerseits die Biologie, andererseits die platonische Philosophie darunter subsummierten. Das ist zunächst einmal wenig spezifiziert als geboren werden, atmen, essen, trinken, schlafen, behütet werden, später spüren, sich bewegen, erkunden, lieben, leiden, wachsen und reifen, denken, wollen, fühlen, handeln und schließlich wieder sterben. Die Wiederentdeckung der Leiblichkeit muss als eine Folge der Entwicklungen in der technischen Zivilisation verstanden werden. Dass sie in diesem basalen Sinne heute auffällig wird, liegt etwa am sogenannten „Umweltproblem“. Das ausbeuterische und zerstörerische Verhalten des Menschen der Natur gegenüber schlägt auf den Menschen selbst zurück: Es wird am ,eigenen Leibe spürbar‘. Es zeigt sich hier als unhintergehbares, eigenleibliches Erleben, „dass die Beziehung zur äußeren Natur im Kern eine Beziehung des Menschen zu sich selbst ist“ (ebd., 120). Betrachtet man die Umgangsformen des Menschen mit der äußeren Natur, so zeigt sich, dass er mit der eigenen Natur nicht viel anders umgeht: objektivierend, instrumentalisierend, ausbeuterisch, destruktiv.
Auf der anderen Seite haben die platonische Philosophie und die Theologie die Natur als etwas betrachtet, wovon der Mensch sich abheben muss, um Mensch zu sein. Kultur und Tugenden waren Resultate der geistigen Distanzierung von Natur, sodass Natur als etwas Äußeres, ja, als eine Gegeninstanz der Tugenden gesehen wurde (Aristoteles, 2009). Die bewusste Rekognition des Umstandes, dass das Leben nicht nur Handlung, sondern auch Widerfahrnis ist, hat unter Umständen als Wunsch, sich von der Unmittelbarkeit dieser Erfahrung herausnehmen zu wollen, viel dazu beigetragen, dass Instanzen wie das Ich und die Seele erfunden wurden. Bei Hegel (1807) wird die Naturerfahrung als ein Außer-sich-Sein des Geistes bestimmt; bei Helmut Plessner (1975) wird das Charakteristikum des Menschen als Möglichkeit zur Exzentrizität beschrieben. So erscheint die Natur in klassischen Selbstdefinitionen des Menschen (Gehlen, 1950) als etwas Äußerliches oder zu Überwindendes. Natur wird zu etwas, ,was wir nicht selbst sind‘. Aber diese Bewegungen entfremden den Menschen seiner selbst und machen ihn in Hinsicht auf seine eigene Natur heimatlos (Böhme, 2008, 123).
Mit diesen Überlegungen wird eine neue Sicht auf Natur gefordert. Dadurch, dass wir durch unsere Leiblichkeit selbst Natur sind, ist uns quasi eine Möglichkeit gegeben, die Substanzialität von Natur von innen her zu sehen und zu spüren (Bischlager, 2016). Diese Sicht wird Kontrolle und Ausbeutung hinter sich lassen können, auch die Idee, in einer Art „Gehäuse“ zu sitzen, das wir nach unseren Vorstellungen benutzen könnten. Was daher Natur für uns ist, hängt davon ab, wie wir uns zu ihr verhalten (ebd., 158). In unserer Kultur und Zeitepoche steht es weder um die Kultivierung der Innerlichkeit noch um Orientierungen des eigenleiblichen Spürens besonders gut. Die deutsche und die österreichische Kultur pflegten ein intensives Nach-außengewandt-Sein und höchste Leistungsbereitschaft, um eine ganze Epoche traumatisierender politischer, gesellschaftlicher und persönlicher Ereignisse aus dem letzten Jahrhundert ins Vergessen zu bringen.
Der moderne Mensch der Hochleistungsgesellschaften lebt als cartesianischer Mensch größtenteils über seinen Leib hinweg. Er glaubt, über seinen Körper wie über ein Eigentum verfügen zu können, er konzipiert sich als biologische Maschine, die ihm im Leben Möglichkeiten eröffnet. Um den Erhalt dieser Optionen zu sichern, muss er die Maschine irgendwie am Laufen halten. Bei allem, was er für sich selbst, seine Mitmenschen oder die Natur entscheidet, sind Vorteilserwägungen im Vordergrund und nicht das Bewusstsein um eine singuläre oder kollektive Dimension der Leiblichkeit. Die Regungen des Leibes sind ihm fremd und er kann damit wenig oder gar nichts anfangen. Er kann sie weder als Empfindungen erleben noch als Hinweise, die ihn orientieren könnten. Im Umgang mit unangenehmen Widerfahrnissen denkt und deutet er sie schnell als Symptome einer Störung, als Folge seiner Fehler. Über Schwächen und die Unveräußerlichkeit des eigenen Leibes tröstet der moderne Mensch sich mit den Handlungsmöglichkeiten der Hochleistungsmedizin hinweg.
In Hinsicht auf Verantwortlichkeit und Selbstfürsorge macht es also einen Unterschied, ob ich im Bild meiner Vorstellungen einen „Körper habe“ oder in selbstverantwortlicher Regie „mein Leib bin“. Mit Medikamenten jeder Art die Maschine wieder zum Laufen zu bringen, macht in Krisen Sinn, genauso viel Sinn macht es aber, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Vorgehensweise die implizite Idee propagiert, dass für die Widerfahrnisse des Lebens keine subjektiven oder sozialen Kompensations- und Regulationsmöglichkeiten zu Verfügung stünden. Unter psychopharmakologischer Dauermedikation können mentale, emotionelle und leibliche Möglichkeiten atrophieren, die Herausforderungen des Lebens direkt auf sich zusprechen zu lassen, der Bewegung, die daraus entsteht, zu folgen und auf diese Weise ein sich stellendes Problem auch als Startkapital für die eigene Entwicklung zu betrachten. Manchmal geht es nicht anders, aber Lernerfahrungen und organismische Anpassungen wirken. All diese Vorstellungen bleiben nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sie treten als Einstellungen zum Anderen hin und als handlungsrelevante Vorstellungen auch ins Gesellschaftliche und Politische hinüber.
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