Leiblichkeit indes ist niemals isoliert zu denken, sondern immer im Aspekt von Interaktion, Sozialität und Ökologie, also der Zwischenleiblichkeit (Merleau-Ponty, 1966). Sie entsteht aus der erotischen Begegnung von Frau und Mann (Marion, 2013), die ein Ereignis im Sinne Badious (2016a) darstellt. Sie reift während der Gestation im Mutterleib in engster organismischer Verbundenheit (Petzold, 1995, 2011) heran, und ihr Überleben ist auch nach der Geburt ohne intimste leibliche Eingebundenheit nicht denkbar. Formen der Angewiesenheit verwandeln sich über die Lebensspanne zwar qualitativ und graduell, sie stellen aber eine der grundlegenden konstitutiven Bedingungen dessen dar, was wir die „Person“ nennen. Im Abschnitt über die Epigenese der Person werden diese Skizzen noch weiter ausgeführt (siehe II/2.4).
Böhme verneint die Bildung des Subjektbewusstseins aus der Interaktion mit dem Anderen nicht, aber er hält sie für prekär. Den Ursprung des Subjekterlebens nicht allein auf die Sozialität oder die Kultur zu projizieren, macht Sinn, denn hierin wäre es erstens vollkommen entleiblicht, zweitens sozialökologisch vollkommen abhängig. Es umgekehrt nur in die Leiblichkeit zurückzudeuten, wäre ebenso prekär, weil hiermit die soziale und ökologische Dimension der Leiblichkeit ausgeblendet würde. Erst wenn Leiblichkeit, Sozialität und Ökologie als zusammengehörig verstanden werden, kann ein Bild unhintergehbarer Bezogenheit des Subjekts auf die Welt hin entstehen. Bei Merleau-Ponty (1976) ist es das Verhalten des Menschen „zur Welt hin“ (être au monde) , die leibliche, sinnsuchende Interaktion des Menschen mit der Welt, die eigentlich erst Humanbewusstsein erzeugt. Bewusstsein und Subjekt-Sein sind daher nie an sich primär, sondern sie sind primär in den Leib zurückgebunden. Das sinnbezügliche Verhalten, somit auch die Sprache und das Sprechen, das Denken und das leibliche Empfinden treten als Vermittler zwischen Leib und Umwelt auf und stellen so die Grundbedingungen des Bewusstseins und des Person-seins erst her (Derrida, 2012, 2013; siehe II/2.5).
So müssen vielschichtige „Quellen des Selbst“ anerkannt werden (Taylor, 1996). Das Selbst im Gefolge dieser Vorstellungen ist ein phänomenologisches Leib-Selbst, das epigenetisch aus der Synergie von Leiblichkeit, Sozialität und Ökologizität emergiert. Als im pragmatischen Sinn inkarniert (Merleau-Ponty, 1966) kann das Subjekt betrachtet werden, wenn vonseiten einer phänomenologisch wahrnehmbaren Bewusstseinsinstanz durch das Subjekt die Selbstaneignung der Leiblichkeit im Modus einer Identifikation vorgenommen wurde (Metzinger, 1996). Das ist aber nicht nur Aktivität im engeren Sinn, sondern auch ein pathisches Geschehen (Böhme, 1985), das etwas mit reflektierender Besinnung (Henrich, 2016), mit Zustimmung und Hingabe zu tun hat (Lévinas, 1998) und dann erst zu einem reifen Subjektsinn führt: Aneignung als ein Prozess des „wachen Nichthandelns“ (Hogrebe, 2006).
Weil die Natur, die Selbsttätigkeit des Leibes, uns immer wieder einholt, uns bedrängt, wir ihr ausgesetzt sind bis in die Regression und bis ins Sterben, bleibt es für das emanzipierte Subjekt immer noch und immer wieder eine Frage des praktischen Selbstverhältnisses, ob man die leiblichen Regungen als Gefährdungen des Selbstbesitzes erfährt, sie wegdrängt, sie als ,bloß körperlich abtut‘ oder sie zulässt, sich von ihnen führen lässt, aus ihnen lernt und sie als Zeichen der eigenen Lebendigkeit, sogar als Orientierung für das eigene Denken, Urteilen, Fühlen und Handeln entgegennehmen kann. Freilich, wenn diese Bewegungen nicht leidvoll sind, mag uns das leichter gelingen und sie erfreuen uns sogar – etwa beim Einschlafen oder im Vollzug der Sexualität. Wie auch immer, dem reifen Menschen ist seine Natur nie bloß äußerlich, sondern etwas, das er mit seinem Leib selbst ist : „Ich bin überhaupt nur ein [Subjekt], insofern ich mir unausweichlich [als Leib selbst] gegeben bin“ (Böhme, 2008, 148f., 157, Einfügung durch Autor; vgl. auch Waldenfels, 2000). In dieser Sicht ist das Subjektsein etwas potenziell Radikales, weil unverwechselbar und solitär. Damit stellt es die grundlegende Bedingung des revolutionär Neuen dar (Badiou, 2014).
Leibliche Präsenz, Daseinserfüllung
In Zeiten des Krieges, in mühsamer körperlicher Arbeit und Produktion, Versklavung und Verachtung des Lebens muss es notwendig gewesen sein, Leiblichkeit zu verleugnen, den Körper zu disziplinieren, ihn auf Herausforderungen und Gefahren hin abzurichten. Aber auch jetzt, da in unserer Gegenwart und Kultur diese Notwendigkeiten weitgehend in den Hintergrund getreten sind, ist die leibliche Präsenz im Sinne einer positiven Daseinserfüllung nicht von selbst gegeben.
Zum einen sind unsere Kultur und unser Denken, auch ohne die krassen Notwendigkeiten früherer Zeiten, immer noch vom Leistungsprinzip und anderen Verdrängungen durchdrungen (Marcuse, 1965), zum anderen ist das eigenleibliche Spüren oder Bei-sich-Sein immer an die Herausforderung der Begegnung mit sich und anderen gebunden – Konsequenzen des Daseins als Mensch. Der schlichte Wunsch, ,mehr bei sich sein zu können‘, impliziert oft nicht im Geringsten seine Bindung an die Konfrontation mit existenziellen Lebensthemen: Es sucht das Feine, Vergnügliche, Beruhigende, Saturierte. Bei sich sein kann aber bedeuten, in einem Zug mit dem Schönen auch alles Unangenehme spüren zu müssen. Das Selbst-Sein im Vollsinn eigenleiblichen, also phänomenologischen Spürens und Wahrnehmens stellt sich dem Menschen als eine Aufgabe dar (Böhme, 2012, 2017).
Daseinserfüllung wird in unserer Kultur nicht in erster Linie in lustvoller leiblicher Existenz gesucht, sondern eher in Bereichen des Erfolges, der gesellschaftlichen Stellung, im Besitz und im Ansehen. Obwohl das Gelingen dieser Vollzüge an sich nur eine mögliche Voraussetzung für das „Glück der Sterblichen“ (Janke, 2002) darstellt, spreizt es sich oft genug schon als „Glück an sich“ auf (Fenner, 2004). Als tiefgreifend wirksam für diese Verschiebungen werden hier der christlich-abendländische Glaube und Dogmatismus angesehen, die Formen leiblichen Vergnügens an sich schon als schuldhaft ausgearbeitet haben (Caillois, 1988; Frielingsdorf, 1997). Die psychische Gewalttätigkeit durch christliche Moral und religiöse Schuldzuschreibungen die Natur des Menschen betreffend, die Entwertung leiblichen Daseins, die Entmündigung, Okkupation und Verfolgung haben dafür gesorgt, dass das Bewusstsein des Menschen in ein Gegenstands- und Sozialbewusstsein ohne Leiblichkeit habituiert ist: Man ist „außer sich“ (Girard, 2012; Agamben, 2010).
In Sein und Zeit beschreibt Heidegger (1929), wie über Schuldbewusstsein die Vergangenheit und Sorgen die Zukunft betreffend die leibliche Gegenwart versäumt wird. Diese Bewegung wird heute durch eine dritte Ebene der Ablenkung geboostet , in der hybride Formen von Information und Kommunikation, die Akkumulation digitaler sozialer Welten im globalisierten Kontext, den Menschen in eine mentale und leibliche Ataxie verfrachten, in eine Agonie des Gegenwartsbezugs (Baudrillard, 1978), in der er zuerst seiner Mitte und seines Daseins verlustig geht, anschließend ungeheure Anstrengungen zur Wiedergewinnung des zuvor Verlorenen unternimmt (Böhme, 2017; vgl. Han, 2016). Das ist moderne Daseinserfüllung.
Reine Lust und Freude am leiblichen Dasein im Sinne des Verweilens (Han, 2015a) sind heute alles andere als eine selbstverständliche Kategorie. In den meisten Verrichtungen unseres Alltags ist die leibliche Anwesenheit schon gar nicht mehr vonnöten. Die zwischenleibliche Kommunikation wird vielfach durch jene am Bildschirm ersetzt oder in Algorithmen digitaler Medien simuliert (Jullien, 2014a). Bloß noch im Urlaub will man ,selbst da‘ gewesen sein. Wenn es (auch) hier nicht nur um das Posten geht, kann man annehmen, dass ein Erleben, vielleicht sogar ein Abenteuer gesucht wird, jedenfalls eine Erfahrung des eigenleiblichen Spürens (Schmitz, 2007). Aber „das Gefühl[,] da zu sein, stellt sich nicht mit dem Ereignis des Ankommens ein, sondern erst nach einem gewissen Zurücktreten, einem Abwarten, bis die Szene [und die Atmosphäre] sich öffnet und die Dinge auf einen zutreten“ (Böhme, 2017, 132; Einfügung durch Autor; vgl. Petzold, 1993e). Dies erfordert die Umstellung vom zugreifenden und konstatierenden Blick hin zur empfangenden Anschauung (Jullien, 2010). Für eine solche Erfahrung darf die Umgebung nicht nur ein zweidimensionales Bild sein.
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