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3.3 Rechtliche Regelungen in der UN-Behindertenrechtskonvention
Für Menschen, die an einer chronischen psychischen Krankheit leiden oder seelisch behindert sind, gilt das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK). 2
Laut Artikel 12 UN-BRK sind Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen gleichberechtigt, sodass alle Menschen dieselbe Rechts- und Handelsfähigkeit haben. Menschen mit Behinderungen haben einen Rechtsanspruch auf die erforderliche Unterstützung, damit ihnen die gleichberechtigte Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit möglich ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist somit verpflichtet, hierzu »geeignete Maßnahmen« zu ergreifen.
Damit stellt sich die Frage, ob dieser Anspruch dem oben skizzierten Konzept von Zwangsmaßnahmen bei Selbstbestimmungs(un)fähigkeit widerspricht. Die UN-BRK verbietet Zwangsmaßnahmen nicht grundsätzlich. Sie verbietet, die Freiheit willkürlich, rechtswidrig oder nur aufgrund einer Behinderung zu entziehen (Art. 14 UN-BRK). Zwangsmaßnahmen – insbesondere eine Unterbringung aufgrund von Fremd- und Eigengefährdung – sind somit nicht grundsätzlich untersagt und bleiben – unter Wahrung der Gesetze – zulässig (DGPPN 2014, S. 6).
Im Bereich der Gesundheitsversorgung sind Menschen mit Behinderungen auf der Grundlage der freien Einwilligung nach vorheriger Aufklärung in gleicher Qualität und gleichem Leistungsumfang zu behandeln (Art. 25 UN-BRK). Die praxisrelevante Frage, wie vorzugehen ist, wenn der Betroffenen – aus welchen Gründen auch immer – nicht bzw. nicht mehr in der Lage ist, seinen freien Willen zu äußern und in die Behandlung einzuwilligen, lässt die UN-Behindertenrechtskonvention leider offen.
Welche Wirkung die UN-BRK hat, zeigt auch die derzeit anstehende Reform im Vormundschafts- und Betreuungsrecht. Die gesamte Reform ist darauf ausgelegt, den Betreuten zu eigenem Handeln zu ermuntern und ihn dabei zu unterstützen. Er soll Mittelpunkt und so weit als möglich Entscheider und nicht Gegenstand der Entscheidung sein.
Ein konkretes Beispiel sind die Neuregelungen zu Sterilisation. Bei diesen setzt sich der Gesetzgeber explizit mit der UN-BRK auseinander. Es gilt zu klären, ob die nationalen Regelungen rechtskonform sind. Der Gesetzgeber geht hiervon aus, schärft den Gesetzeswortlaut aber unter anderem wegen der UN-BRK nach und möchte den rechtlichen Zustand zur Sicherheit auch evaluieren (BT Drs. 19/27287 S. 24).
Eine weitere Bindung – zumindest für das ärztliche Personal – folgt aus dem Hippokratischen Eid. Dieser ist meist Bestandteil des feierlichen Gelöbnisses der Absolventen medizinsicher Absolventen. Er verpflichtet – je nach Formel – Verordnungen zu treffen, die zum Nutzen des Kranken sind und sich davon fernzuhalten, Verordnungen zu treffen, die zum Schaden des Patienten sind (LÄK BW 2020, Kern 2019).
Daraus folgt in der täglichen Umsetzung für Ärzte die Pflicht, sich mit Zwangsmaßnahmen zu beschäftigen. Möglicherweise eignet sich eine Erinnerung an den Hippokratischen Eid auch, um einzelne Ärzte, welche Zwangsmaßnahmen oder den Umgang mit Betroffenen nicht die notwendige Aufmerksamkeit schenken, für das Thema zu sensibilisieren.
3.5 Strafrechtliche Grundlagen
Die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten führen dazu, dass wesentliche Rechte einer Person auch im Umgang untereinander geschützt sind. Das heißt, dass der rechtswidrige Eingriff in das Rechtsgut durch eine Person dazu führt, dass diese Person dafür bestraft wird. Dies ist die Ebene des Strafrechts.
Dies ist eine hoch praxisrelevante Ebene. Denn die Mitarbeitenden in den Einrichtungen wollen den von Zwangsmaßnahmen Betroffenen helfen. Sie greifen dabei jedoch in strafrechtlich geschützte Rechtsgüter ein. Dies hat zur Folge, dass ihr Handeln strafrechtlich relevant ist und sich an den Regeln des Strafrechts messen lassen muss. Daher ist die Kenntnis der relevanten Straftatbestände, welche einschlägig sein können wichtig. Ebenso relevant ist die Frage, wie die Handlungen strafrechtlich gerechtfertigt werden können. Denn eine Rechtfertigung oder ein Schuld- oder Strafausschließungsgrund ist notwendig, damit der Eingriff nicht bestraft wird.
Jede Unterbringung oder freiheitsentziehende Maßnahme erfüllt grundsätzlich den Straftatbestand der Freiheitsberaubung. So regelt § 239 des Strafgesetzbuches (StGB): »Wer einen Menschen einsperrt oder auf anderer Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Das Schutzgut ist die Fortbewegungsfreiheit, also die Möglichkeit, sich von einem bestimmten Ort wegzubewegen (Fischer 2014 § 239 Rn. 2; Valerius 2020, § 2039 Rn. 3). Liest man den Tatbestand, stellt sich die Frage, was »einsperren« eine Freiheitsberaubung »auf andere Weise« ist. Hiermit zusammen hängt die Frage, ob jemand eingesperrt werden kann, wenn er dies nicht bemerkt.
Einsperren ist das Festhalten des Betroffenen in einem bestimmten Raum. Die Freiheitsberaubung »auf andere Weise« umfasst jede Handlung, welche die Realisierung des Fortbewegungswillens verhindert (Valerius 2020, § 2039 Rn. 9 ff.). Der Ort der Freiheitsberaubung kann eng oder weit bestimmt sein. Die Verwehrung der Möglichkeit, sich von einem Gegenstand – wie einem Stuhl oder einem Bett – wegzubewegen, ist ebenso eine Freiheitsberaubung wie die Verhinderung, sich von einem Ort – beispielsweise einem Krankenhausgelände – zu entfernen (OLG Nürnberg, Urt. v. 18.10.2010, Az.: 1 St OLG Ss 106/10).
Auch das Anziehen der Bremsen des Rollstuhls kann eine Freiheitsberaubung sein, wenn der Nutzer die Bremse nicht lösen kann.
Wie aus vorstehenden Ausführungen hervorgeht, bedarf es eines Willens, sich fortzubewegen (so wohl auch BVerfG, Beschl. v. 15.01.2020 – 2 BvR 1763/16, NJW 2020, 675, 677, Rn. 33). In der Rechtswissenschaft ist umstritten, ob jemand der Freiheit beraubt werden kann, welcher diesen Willen nicht bilden kann (Fischer 2014 § 239 Rn. 3, Valerius 2020, § 2039 Rd. 6 ff.). Dies betrifft beispielsweise Patienten auf Intensivstationen, welche fixiert werden, damit sie sich ihre Zugänge nicht selbst entfernen. Diese sind meist nicht wach und können in ihrem Zustand keine Entscheidung treffen, sich fortbewegen zu wollen. Dieselbe Frage stellt sich bei einem Baby in einem Inkubator. Dieses kann aufgrund seines Alters ebenfalls noch keine Entscheidung treffen, ob es sich fortbewegen möchte.
Geschützt ist das Selbstbestimmungsrecht der Person über ihren Aufenthaltsort. Dies spricht dafür, dass die Freiheitsberaubung die Fähigkeit voraussetzt, einen natürlichen Willen zur Ortsveränderung zu bilden.
Bei Betroffenen, welche längere Zeit keine Fähigkeit haben einen natürlichen Fortbewegungswillen zu bilden, benötigt in der Regel für ihre rechtsgeschäftliche Vertretung einen Betreuer. Daher kann im Rahmen der Betreuerbestellung ein entsprechender Antrag zur Fixierung mitgestellt werden. Der Richter kann dann entscheiden, ob er bei dem Betroffenen trotz fehlender Fähigkeit, einen Fortbewegungswillen zu bilden, einen Beschluss für notwendig erachtet.
Der Wille der Fortbewegungsfreiheit muss physisch und nicht psychisch verhindert werden. Das heißt, dass entsprechende Schutzvorrichtungen notwendig sind. Umgekehrt ist für eine Freiheitsberaubung nicht ausreichend, wenn man dem Betroffenen Konsequenzen androht, falls er sich nicht wie gewünscht verhält. 3
Zuletzt ist der temporäre Umfang zu bestimmen, ab wann eine Freiheitsberaubung vorliegt. Nicht ausreichend ist eine nur ganz kurzfristige Beschränkung, wie etwa das kurzzeitige Festhalten im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung. Dasselbe gilt für ein Festhalten, welches für den Betroffenen kein schwierig zu überwindendes Hemmnis darstellt, sodass es die Fortbewegung nur leicht verzögert. Der Bundesgerichtshof geht von einem engen Begriff der Freiheitsentziehung aus: Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn die Zwangsmaßnahme die persönliche Bewegungsfreiheit des Betroffenen nicht nur kurzfristig auf einen bestimmten räumlichen Lebensbereich begrenzt (BGH, Beschl. v.23.01.2008 – XII ZB 185/07, NJOZ 2008, 1890). Nach der aktuellen Rechtsprechung ist ein Antrag zu stellen, wenn wiederholt vorhersehbare kurze Freiheitsberaubungen stattfinden oder eine Freiheitsberaubung von über einer halben Stunde absehbar ist (BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16, NJW 2018, 2619). Wie sich dies auf den Zeitpunkt der Antragsstellung auswirkt, wird später noch zu erörtern sein (
Kap. 3.6.5).
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