Gazmend Kapllani
UNENTBEHRLICHES HANDBUCH ZUM UMGANG MIT GRENZEN
Es ging mir nicht darum, etwa nach
Paris oder London zu reisen, o nein ,
solche Ziele versuchte ich mir gar nicht
erst vorzustellen, und sie interessierten
mich auch nicht, ich wollte nur irgendwie
die Grenze überschreiten, egal ,
welche, denn wichtig war für mich nicht
der Ort, das Ziel, das Ende, sondern der
beinahe mystische und transzendentale
Akt des Überschreitens der Grenze.
aus: Ryszard Kapuściński
»Meine Reisen mit Herodot«
aus dem Polnischen von
Martin Pollack,
Berlin 2013
VORWORT VORWORT Grenzen liebe ich nicht besonders. Aber um ehrlich zu sein, wirklich hassen tue ich sie auch nicht. Ich habe einfach Angst vor ihnen, und mir ist gar nicht wohl, wenn ich ihnen direkt gegenüberstehe. Ich spreche zunächst von den geografischen, den sichtbaren Grenzen, von solchen, die Länder, Staaten und Nationen voneinander trennen. Auch heute, da die Grenzen sehr viel durchlässiger geworden sind, überkommt mich bei jedem Grenzübertritt ein merkwürdiges Gefühl: eine Mischung aus Erleichterung und Unbehagen. Vielleicht wegen des Passes, den ich inzwischen mit mir herumtrage. Auf jeden Fall habe ich mich an den misstrauischen Blick der Grenze längst gewöhnt. Sehnsüchtig schaue ich ihr entgegen, kann es kaum erwarten, sie zu überqueren, während sie mir fast immer feindselig oder argwöhnisch entgegenblickt. Ich versuche, sie zu besänftigen, sie davon zu überzeugen, dass ich keine Gefahr für sie bin. Sie hingegen denkt sich immer neue Vorwände aus, um mich zurückzuweisen und ja keine ebenbürtige Beziehung zwischen uns entstehen zu lassen. Aus den genannten Gründen kann ich also zu Recht behaupten, dass ich seit geraumer Zeit von einem Grenzsyndrom befallen bin. Dabei handelt es sich um eine Krankheit, die sich nur schwer klassifizieren lässt; sie ist im Übrigen nicht einmal auf der Liste anerkannter psychischer Störungen aufgeführt, wie zum Beispiel die Platzangst, die Höhenangst oder die Depression. Dennoch kann ich euch einen Eindruck verschaffen von den Symptomen, die damit einhergehen – nicht sofort, ein wenig später. Auf jeden Fall weiß ich, dass es außer mir noch viele andere Menschen gibt, die unter dem Grenzsyndrom leiden. Doch – wer nie das Verlangen verspürt hat, eine Grenze zu überwinden, oder sich nie von einer Grenze zurückgestoßen sah, wird schwerlich nur verstehen, wovon ich spreche. Meine problematische Beziehung zu den Grenzen hat schon recht früh, in meiner Kindheit, eingesetzt. In der Tat, ob man unter dem Grenzsyndrom leidet oder nicht, das ist großenteils vom Schicksal bestimmt: Es hängt nämlich davon ab, wo einer geboren ist. Ich bin in Albanien geboren.
Kapitel 1 1 Die Grenze eines totalitären Staates, wie Albanien es bis 1991 war, zu berühren oder gar sie zu überqueren, kam einem Wunder oder einer Todsünde gleich. Nur sehr wenige Menschen erhielten die offizielle Erlaubnis, sie zu passieren. Das waren dann die echten Glückspilze, und die waren für uns, für die Mehrheit also, beinahe so etwas wie Außerirdische. Wir, die anderen, waren dazu verdammt, entweder nur zu mutmaßen, was auf der anderen Seite der Grenze existierte, oder die Idee, dass es jenseits der Grenze noch eine andere Welt gab, vollständig aus unserem Hirn zu verbannen, was eine gute Methode war, um zu überleben, sowohl seelisch als auch körperlich. Bis eines Tages diese Welt-jenseits-der-Grenze im Unterbewusstsein vieler von uns nicht einfach nur die zeitliche und räumliche Fortsetzung unserer gemeinsamen Welt war. Je mehr Jahre vergingen, je stärker Albanien sich vom Rest der Welt isolierte, desto mehr verwandelte sich diese Welt-jenseits-der-Grenze in einen anderen Planeten. Für einige war es ein paradiesischer, für andere ein furchterregender Planet: auf alle Fälle ein völlig anderer Planet.
WARUM ERZÄHLST DU UNS DAS ALLES? WARUM ERZÄHLST DU UNS DAS ALLES? Ihr könnt mich jetzt fragen: Warum erzählst du uns das alles? Ehrlich gesagt, wenn du Migrant bist, besonders einer der ersten Generation, ist deine erste Reaktion die, im Schweigen zu verharren. Tief im Innern des Migranten herrschen Angst, Misstrauen und die Gewalterfahrungen während der Flucht und bei der ersten Berührung mit dem unbekannten Land. Und außerdem das Gefühl, unerwünscht zu sein, sowie Groll, Heimweh und gleichzeitig das Verleugnen der Heimat, Schuldgefühle und Wut. Der Migrant ist ein verwirrtes, ein verunsichertes Geschöpf und hat von daher Angst, sich zu bekennen. Es genügt eine ablehnende oder gleichgültige Geste seines Gegenübers, die ausdrücken mag »Was geht mich das an, woher du kommst und was du durchgemacht hast?!«, und schon fühlt der Migrant sich lächerlich, schutzlos und unzulänglich. Infolgedessen geht er lieber kein Risiko ein. Er quält sich einsam und allein mit seinen Erfahrungen und gelangt allmählich zu der Überzeugung, dass seine Geschichte keine Menschenseele interessiert. Schließlich ist seine Bestimmung ja auch nicht das Geschichtenerzählen, denkt er, sondern wie ein Hund ums Überleben zu kämpfen. Die anderen, die können ihn nicht nur, sie wollen ihn auch nicht verstehen . Die Alternative ist, etwas zu riskieren, sich zu entblößen und sich zu dem schmerzhaften, widersprüchlichen Lebensweg eines Migranten zu bekennen. Er spürt, dass er Gefahr läuft, neurotisch und nachtragend zu werden, wenn er all das Erlebte für sich behält. Das größte Geschenk, das er sich erhoffen kann, wäre, dass jemand ihn versteht und mit ihm zugleich all jene, die nicht erzählen können, die es nicht wagen oder die einfach keine Zeit dafür haben und ihre Erzählungen in ihrem Inneren begraben. Einen Migranten kann man erst verstehen, wenn man seine Geschichte gehört hat .
Kapitel 2
FLUCHT BEDEUTET BRUCH MIT DER HEIMAT
Kapitel 3
DER MIGRANT UND DAS REICH DES MÜSSENS
Kapitel 4
EIN NAHEZU LÄCHERLICHER HELD
Kapitel 5
WENN DU TOURIST WÄRST
Kapitel 6
ILLEGALE GRENZÜBERQUERUNG, IMMER WIEDER
Kapitel 7
ZWEI JAHRE AUF DER GRENZE
Kapitel 8
DAS GESCHLECHT DER GRENZEN
Kapitel 9
RUHIGE TAGE IM AUGUST
Kapitel 10
DU KAMST UNGEBETEN
Kapitel 11
DIE MERKWÜRDIGEN ANGEWOHNHEITEN DER ILLEGALEN
Kapitel 12
DIE TÜR IM SUPERMARKT
Kapitel 13
ARBEIT, ARBEIT, ARBEIT
Kapitel 14
DIE GENERATION DER TELLERWÄSCHER
Kapitel 15
DIE EINSAMKEIT IN EINEM SEXKINO BETÄUBEN
Kapitel 16
DIE ERSTEN WÖRTER
Kapitel 17
MERK DIR, FREMDER
Kapitel 18
DU HAST EINEN UNVERSTÄNDLICHEN NAMEN
Kapitel 19
ABENDS KOMMT ES NOCH SCHLIMMER
Kapitel 20
ES FOLGT WERBUNG
Kapitel 21
EINST BEWUNDERER, JETZT GEISEL DES BILDSCHIRMS
Kapitel 22
HARTES METIER
Kapitel 23
DU RÜHRST AN ERINNERUNGEN
Kapitel 24
»SELBST DIE ALBANER SIND TEURER GEWORDEN«
Kapitel 25
DER SÜNDENBOCK DER ARMEN
Kapitel 26
DIE BLEIBENEUROSE
Kapitel 27
DEIN KIND SPRICHT NICHT GEBROCHEN GRIECHISCH
Kapitel 28
WENN DER MIGRANT KEIN MITLEID MEHR ERWECKT
Kapitel 29
DAS GEDÄCHTNIS DES MIGRANTEN
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