In Ergänzung bedeutet dies auch, dass der Richter zeitnah zu entscheiden hat. Zudem muss dem Betroffen die Möglichkeit einer zeitnahen Rechtsschutzmöglichkeit offenstehen, bei welcher der Fall vollständig geprüft wird (BVerfG, Beschl. v. 15.01.2020 – 2 BvR 1763/16, NJW 2020, 675, 677, Rn. 33, Schemel NJW 2020, 651). Damit die Entscheidung dann vollständig überprüfbar ist, muss diese eine umfassende Begründung enthalten. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidungsgründe ein Revisionsgericht in die Lage versetzen würde, die Entscheidung nachzuvollziehen. Hierzu gehört auch eine Gefährlichkeitsprognose, also eine Abwägung, weshalb damit zu rechnen ist, dass der Betroffene sich oder Dritte wieder gefährden wird (BGH, Beschl. v. 07.07.2020 – 2 StR 121/20, BeckRS 2020, 21346).
3.1.11 Der Gesetzesvorbehalt
Eingriffe in die Freiheit der Person bedürfen förmlicher Gesetze. Denn die Handlungsfreiheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit sind hohe und verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter, sodass der Staat nur aufgrund einer gesetzlichen Grundlage in die Freiheit des Bürgers eingreifen darf. Diese Gesetze müssen die Voraussetzung des Eingriffs in die Freiheit explizit gestatten und die möglichen Rechtsfolgen selbst regeln. Dies nennt man juristisch den Gesetzesvorbehalt (Weiß 2010). Beispiele hierfür sind:
• die Regelung einer Unterbringung in den Landesgesetzen über die öffentlich-rechtliche Unterbringung psychisch Kranker,
• die Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB,
• die Genehmigung des Betreuungsgerichts einer ärztlichen Zwangsmaßnahme nach § 1906 Abs. 3 BGB,
• die Genehmigung des Betreuungsgerichts bei freiheitsentziehenden Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4 BGB.
3.1.12 Zwangsmaßnahmen als »letztes Mittel« – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Die Anordnung einer Unterbringung, einer ärztlichen Zwangsmaßnahme oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme basiert auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Prinzip »im Zweifel für die Freiheit«.
Was bedeutet das für die Praxis? Die Freiheit einer Person ist ein so hohes Rechtsgut, dass sie ausschließlich aus besonders wichtigen Gründen eingeschränkt werden darf. Es ist immer das mildeste Mittel anzuwenden (LG Lübeck, Beschl. v. 22.01.2021 – 7 T 28/21, BeckRS 2021, 495).
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass jede Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgt und überdies geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn (»angemessen«) sein muss. Eine Maßnahme, die diesen Anforderungen nicht entspricht, ist rechtswidrig. Sie wird daher im Falle einer richterlichen Überprüfung aufgehoben werden.
Der Zweck des Eingriffs in die Freiheit einer Person kann sowohl der Schutz der Allgemeinheit als auch der des Betroffenen selbst sein.
Die Zwangsmaßnahme muss geeignet sein, den avisierten Zweck zumindest zu fördern. Eine Zwangsmaßnahme ist erforderlich, wenn kein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung steht, genauer: wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher oder sogar besserer Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, den Betroffenen und die Allgemeinheit aber weniger belastet. Alle Möglichkeiten der Deeskalation müssen ausgeschöpft sein. Aus diesem Grund muss vor jeder Zwangsmaßnahme auch versucht werden den Betroffenen davon zu überzeugen, ob er sich freiwillig in die Maßnahme begibt, sofern dieser einwilligungsfähig ist. Zudem sind die jeweils am wenigsten einschneidenden Maßnahmen zu wählen (BGH Beschl. v. 18.05.2011 – XII ZB 47/11, FGPrax 2011, 202).
Grundrechtseingriffe sind nur zulässig, wenn sie geeignet und erforderlich sind, einen höherrangigen Zweck zu erfüllen. Sobald Zweifel an Geeignetheit und Erforderlichkeit bestehen, ist auch die Zweckerreichung unsicher und zweifelhaft. Die Maßnahme entspricht nicht mehr den Erfordernissen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und ist somit rechtswidrig.
Angemessenheit ist eine Zwangsmaßnahme nur dann, wenn die Nachteile, die mit der Maßnahme verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie bewirkt. An dieser Stelle ist eine Abwägung sämtlicher Vor- und Nachteile der Maßnahme vorzunehmen. Dabei sind vor allem verfassungsrechtliche Vorgaben, insbesondere die Grundrechte, zu berücksichtigen. Eine Freiheitsentziehung und eine Freiheitsbeschränkung darf nur angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten.
Das Spannungsfeld zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit dem staatlichen Schutzauftrag auch gegenüber dem Betroffenen verlangt nach einem gerechten und vertretbaren Ausgleich. Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen an die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung (Marschner u. a. 2010, Teil A, Rn. 27).
Grundrechtseingriffe sind nur zulässig, wenn sie geeignet und erforderlich sind, einen höherrangigen Zweck zu erfüllen. Sobald Zweifel an Geeignetheit und Erforderlichkeit bestehen, ist auch die Zweckerreichung unsicher und zweifelhaft. Die Maßnahme entspricht nicht mehr den Erfordernissen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und ist somit rechtswidrig.
Vor einer Unterbringung ist stets zu prüfen, ob vorausgehende ambulante Maßnahmen ergriffen werden können.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert eine Auseinandersetzung mit folgenden Fragen:
• Verfolgt die Zwangsmaßnahme einen legitimen Zweck?
• Ist die Maßnahme geeignet, das erwünschte Ziel zumindest zu fördern?
• Gibt es Alternativen, die besser oder genauso geeignet sind, das Ziel zu erreichen und den Betroffenen weniger belasten? Sind alle Deeskalationsmaßnahmen ausgeschöpft?
• Stehen die Nachteile, die mit der Maßnahme verbunden sind, im Verhältnis zu den Vorteilen, die sie bewirkt?
Vorrangig, als milderes Mittel, kommen ambulante Angebote und Institutionen wie z. B. ambulante Pflegedienste, niedergelassene Ärzte, sozialpsychiatrische und therapeutische Dienste in Betracht.
Hierzu gehört auch, sofern die Maßnahme zum Eigenschutz des Betroffenen unternommen wird, dass ein Überzeugungsversuch beim Betroffenen unternommen wird, ob damit dieser die Maßnahme freiwillig erdulden möchte (Referentenentwurf MBJV, 2017, S. 17).
3.2 Rechtliche Regelungen in der Menschenrechtskonvention
Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wird ebenfalls durch auf europäischer Ebene erlassene Normen der Menschenrechtskonvention geschützt. Artikel 5 Abs. 1 MRK (auszugsweise) lautet:
»(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
(…)
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zur Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern,
(…)
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern,
f) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gang ist.(…)«
Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bindet über Artikel 20 Abs. 3 GG Gerichte und Verwaltung und geht widersprechendem Bundes- und Landesrecht vor (Marschner u. a. 2010, Teil A, Rn. 2).
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