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3.6.1 Der rechtfertigende Notstand und Notwehr
Zwangsmaßnahmen können ausnahmsweise und für kurze Zeit unter den Voraussetzungen der Notwehr oder des rechtfertigenden Notstands zulässig sein, wenn keine Einwilligung erzielt werden kann (Mazur GuP 2019, 121). Eine Strafbarkeit entfällt sodann. Im Anschluss an den Beginn der Maßnahme sollte zeitnah eine richterliche Genehmigung eingeleitet werden.
»Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.« (§ 32 Abs. 2 StGB)
Eine Strafbarkeit entfällt ferner im Falle eines rechtfertigenden Notstandes nach § 34 StGB:
»Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.«
Bei Gefährdung des Betroffenen oder der Mitarbeiter (akute Krisensituation) darf jeder Mitarbeiter sofort Maßnahmen einleiten. Ein richterlicher Beschluss, die Zustimmung des Arztes o. ä. sind nicht erforderlich.
Zweck der Zwangsmaßnahme muss sein, die Gefahr von sich oder anderen abzuwenden. Dann ist die Handlung gerechtfertigt und die handelnde Person hat sich nicht strafbar gemacht.
Herr B greift die Pflegefachkraft Frau O mit einem Messer an. Um sich und die anderen Patienten zu schützen, ist eine Verteidigung geboten. Die Verteidigungshandlung von Frau O soll zur sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs von Herrn B führen. Zugleich soll es für Herrn B das mildeste Abwehrmittel sein.
Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Verteidigung (BGH, Urt. v. 27.09.2012, Az.: 4 StR 197/12). Wie diese auszusehen haben, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab.
Fallbeispiel – Alternative 1
Herr B ist 25 Jahre alt und sehr sportlich. Er wurde bereits wegen schwerer Körperverletzungsdelikte verurteilt.
Da Herr B sowohl körperlich in der Lage ist, Frau O zu verletzen, und als gewalttätig bekannt ist, ist es für Frau O nicht zumutbar, sich nur verbal zu verteidigen. Eine Überwältigung von Herrn B – gegebenenfalls durch Mithilfe der Polizei – erscheint angezeigt, um ihm das Messer zu entwenden. Dieses Vorgehen ist durch den Umstand der Notwehr zulässig.
Fraglich ist, ob eine vorherige räumliche Isolierung von Herrn B machbar und sinnvoll ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Herr B mit dem Messer selbst verletzt. Eine räumliche Isolierung kommt daher nicht in Frage.
Fallbeispiel – Alternative 2
Bei dem Messer handelt sich um ein stumpfes Frühstücksmesser. Herr B ist ein älterer Herr, der zumeist zur Fortbewegung einen Gehwagen mit sich führt.
Frau O sollte zunächst Herrn B auffordern, das Messer zur Seite zu legen. Eine sofortige körperliche Überwältigung von Herrn B ist nicht gerechtfertigt, da es nicht auszuschließen ist, dass die Bedrohung durch Herrn B anders – nämlich durch Kommunikation – abzuwenden ist. Da von Herrn B keine ernsthafte Gefahr ausgeht, muss Frau O zunächst versuchen, den Konflikt durch ein milderes Mittel – wie eine verbale Auseinandersetzung – zu lösen.
3.6.2 Besondere gesetzliche Vorschriften
Weitere Regelungen finden sich in folgenden Gesetzen:
• § 81a Abs. 1 StPO – ärztliche Eingriffe auf polizeiliche, staatsanwaltschaftliche oder gerichtliche Anordnung zu Beweiszwecken im Ermittlungsverfahren,
• § 127 Abs. 1 StPO – Festnahmerecht von Privatpersonen gegen einen auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten fluchtverdächtigen Täter,
• § 17 Soldatengesetz – Verpflichtung des Soldaten zur Duldung von Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (z. B. Zwangsimpfung),
• §§ 29, 30 Infektionsschutzgesetz – Zwangsmaßnahmen gegen uneinsichtige Patienten mit ansteckenden Krankheiten (z. B. Quarantäne),
• Aufenthaltsgesetz und Asylverfahrensgesetz (Zurückweisung, Abschiebung),
Diese materiell-rechtlichen Vorschriften enthalten Regelungen, die eine Zwangsmaßnahme rechtfertigen können.
3.6.3 Rechtfertigung durch richterlichen Beschluss
Der richterliche Hoheitsakt kann keine Zwangsmaßnahme rechtfertigen. Dies sind insbesondere die Entscheidungen der Betreuungsgerichte. Auf diese wird aufgrund ihrer Relevanz in eigenen Kapiteln eingegangen (
Kap. 4.2,
Kap. 5).
Eine rechtfertigende Wirkung haben auch rechtswidrige Hoheitsakte bis zu deren Aufhebung, da diese noch wirksam sind. Dies bedeutet, dass sich das Personal, welches eine Maßnahme beim Betroffenen durchführen muss, auf die Rechtfertigung stets berufen kann. Wenn der Betroffene oder Dritte sagen, dass die Entscheidung inhaltlich fehlerhaft sei, mag diese Fehlerhaftigkeit zwar zur Angreifbarkeit der Entscheidung führen, die Rechtfertigung der Maßnahme wird dadurch aber nicht berührt.
3.6.4 Rechtfertigung durch Verwaltungsakt der Exekutiven
Nicht nur Gerichte, sondern auch die Polizei kann Maßnahmen – insbesondere im Notfall – anordnen. Hierzu gehören insbesondere der Platzverweis und der Gewahrsam. Grundlage sind die Polizeigesetze der Länder. Infolgedessen muss der Betroffene die ausgesprochene Maßnahme dulden. Der Verwaltungsakt kann auch gegenüber einer Einrichtung ergehen, bei welcher der Betroffene von der Polizei abgeliefert wird. Die Polizei kann von der Einrichtung die Durchführung der Zwangsmaßnahme verlangen. Meist ist dies die Aufnahme zur Unterbringung. Dann muss die Einrichtung die Maßnahme durchführen. Ihr bleibt nur die Möglichkeit, sich im Nachhinein Rechtsschutz zu suchen, wenn sie die Maßnahme für falsch hielt oder meint, die Person nicht unterbringen zu können. Sofern mit einer Wiederholung gerechnet werden muss, sollte im Nachhinein zunächst das deeskalierende Gespräch mit der Polizeibehörde gesucht werden, um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Zukunft nicht zu gefährden. Wenn allerdings kein Kompromiss gefunden werden kann, kann es notwendig sein, über eine Feststellungsklage die Rechtswidrigkeit des polizeilichen Handelns prüfen zu lassen.
3.6.5 Zeitliche Grenzen des Notwehrrechts – Zeitpunkt des gerichtlichen Antrags
Wie bereits erwähnt, können Zwangsmaßnahmen für kurze Zeit aufgrund einer Notwehrlage oder eines rechtfertigenden Notstandes gerechtfertigt sein, sodass die handelnden Personen straffrei bleiben.
Das Merkmal »kurze Zeit« war bisher umstritten (Mazur GuP 2019, 212). Es gab keine gesetzliche Regelung, die eindeutig festlegt, nach welcher Zeit zwingend eine gerichtliche Genehmigung der Zwangsmaßnahme eingeholt werden muss.
In der Praxis wurde in der Vergangenheit zumeist die zeitliche Höchstgrenze mit 24 Stunden angegeben. Für diese Auffassung spricht § 128 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO), der regelt, nach welchem Zeitraum eine vorläufig festgenommene Person einem Richter vorzuführen ist. Denn in § 128 StPO heißt es, dass der Festgenommene »unverzüglich, spätestens am Tage nach der Festnahme« dem Richter vorzuführen ist. Aus der Gesetzgebungsdokumentation lässt sich entnehmen, dass damit 24 Stunden gemeint sein sollen.
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