Attestiert der behandelnde Arzt dem Patienten eine Einwilligungsunfähigkeit, so ist die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen (§ 630d Abs. 1 S. 2 BGB). Für die Praxis folgt daraus, dass die ärztliche Bewertung der Einwilligung der erste Schritt ist. Je nachdem, wie sie ausfällt, muss in das Procedere, um eine gesetzliche Rechtfertigung für die geplante Maßnahme herstellen zu können, eingestiegen werden.
In medizinischen Eilfällen, in denen die Einwilligung eines Berechtigten aus Zeitgründen nicht abgewartet werden kann, ist der mutmaßliche Wille des Patienten entscheidend. Eine solche Notlage liegt beispielsweise bei bewusstlosen oder Notfallpatienten mit vitaler Indikation oder bei nicht vorhersehbarer, notwendiger Eingriffserweiterung vor. Der mutmaßliche Wille richtet sich nach dem individuellen, hypothetischen Willen des Patienten. Grundsätzlich ist von einem verständigen Patienten auszugehen (Palandt 2020, § 630d, Rn. 4). Die Konstellationen sind häufig ähnlich oder zum Teil identisch zu jenen, welche einer Rechtfertigung durch Notwehr oder Notstand zu Grund liegen.
3.9 Zusammenspiel aus Gericht, Betreuer und Bevollmächtigtem
Nicht nur ein Betreuer, sondern auch ein Bevollmächtigter können eine Unterbringung beantragen und in ärztliche Zwangsmaßnahmen und freiheitsentziehende Maßnahme einwilligen.
Voraussetzung ist eine schriftliche Vollmacht, welche ausdrücklich für die Unterbringung, ärztliche Zwangsbehandlung und/oder die freiheitsentziehenden Maßnahmen erteilt wurde. Die Person, die die Vollmacht erteilt hat, muss zu dem Zeitpunkt der Vollmachtserteilung geschäftsfähig gewesen sein. Eine partielle Geschäftsfähigkeit reicht aus; der Vollmachtgeber muss Bedeutung und Folgen der Bevollmächtigung und auch eines Widerrufs erkennen können.
Eine Generalvollmacht genügt nicht. Die Maßnahmen, auf welche sich die Vollmacht bezieht, müssen zwar nicht wortwörtlich genannt werden, es muss aber unmissverständlich deutlich werden, wozu der Bevollmächtigte im Einzelnen ermächtigt ist. Für Maßnahmen, die nicht von der Vollmacht umfasst werden, ist ein Betreuer – ggf. beschränkt auf diesen Aufgabenbereich – zu bestellen.
Für den Bevollmächtigten gelten ansonsten dieselben (verfahrens-)rechtlichen Grundsätze: Die Genehmigung von Zwangsmaßnahmen durch das Betreuungsgericht ist stets erforderlich.
Ab 2023 fügt sich in dieses Verhältnis noch die Ehegattenvollmacht als besondere Form der Vollmacht ein. Für sie gelten ebenfalls die Regeln wie bei Vorsorgevollmachten und für Betreuer für gerichtlich zu genehmigende Maßnahmen. Zudem ist ab 2023 die Subsidiarität der Betreuerbestellung in § 1814 Abs. 2 Nr. 1 BGB n. F. geregelt.
Die Vollmacht endet mit dem Tod sofern nicht vereinbart ist, dass sie auch postmortale Geschäfte umfassen soll. Dies hat den Vorteil, dass der Bevollmächtigte auch den Erbfall regeln kann.
Banken bieten Konto-/Depotvollmachten an. Es ist zu überlegen, eine solche neben der Vorsorgevollmacht zu Unterzeichnen. Damit können – vor allem falls die Vorsorgevollmacht nicht notariell beglaubigt sein sollte – Unklarheiten beseitigt werden (BMJV 2019).
Fallbeispiel: Verzicht auf die Genehmigung des Betreuungsgerichts durch eine Vorsorgevollmacht?
(angelehnt an BGH, Urt. v. 27.06.2012, Az.: XII ZB 24/12 NJW-RR 2012. 1281 und BVerfG, Beschl .v. 10.06.2015, Az.: 2 BvR 1967/12, NJW-RR 2016, 193)
Frau B erteilte ihrem Sohn eine notarielle Vorsorgevollmacht mit folgendem Wortlaut:
»Mein Sohn ist bevollmächtigt, mich, soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einschaltung des Betreuungsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen (General- und Vorsorgevollmacht).«
Nunmehr soll zum Schutz von Frau B jede Nacht ein Bettgitter angebracht werden.
Hat Frau B durch die Bevollmächtigung ihres Sohnes auf die Genehmigung der Zwangsmaßnahme durch das Betreuungsgericht verzichtet? Kann überhaupt durch eine Bevollmächtigung auf die Genehmigungspflicht einer Zwangsmaßnahme vorgreifend verzichtet werden? Reicht die Vollmacht aus und genügt somit die Einwilligung des Sohns? Oder ist – trotz Vollmacht – das Betreuungsgericht anzurufen?
Der Bundesgerichtshof hat sich in seinem Urteil vom 27.06.2012 (Az.: XII ZB 24/12) mit diesen Fragen auseinandergesetzt und vertritt folgenden Lösungsansatz:
• Die Einwilligung in freiheitsentziehende Maßnahmen ist durch einen Bevollmächtigten grundsätzlich zulässig.
• Die Maßnahme ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig.
• Auf die Überprüfung der Maßnahme durch das Betreuungsgericht kann nicht im Vorfeld verzichtet werden.
Eine Vorsorgevollmacht soll helfen, in völliger geistiger Klarheit über das künftige Wohl und Wehe entscheiden zu können. Dennoch sollen solche einschneidenden Maßnahmen – wie ein Bettgitter – durch das Betreuungsgericht kontrolliert werden.
Das Betreuungsgericht prüft in dem Beispielsfall, ob
• die Vorsorgevollmacht rechtswirksam erteilt worden ist und
• sie auch die Einwilligung in freiheitsentziehende Maßnahmen umfasst und
• nicht zwischenzeitlich widerrufen worden ist und
• ob eine Situation vorliegt, welche die freiheitsentziehende Maßnahme gesetzlich rechtfertigt.
Das Betreuungsgericht überprüft also nicht die Entscheidung über die freiheitsentziehende Maßnahme, sondern nur, ob sich das Handeln des Bevollmächtigten im Rahmen der Vorsorgevollmacht bewegt. Diese Kontrolle dient der Sicherung des Willens des Betroffenen.
3.10 Zivilrechtliche Haftung bei rechtswidrigen Zwangsmaßnahmen
Werden Rechtsgüter verletzt, kann dies zu zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen führen.
Das Strafrecht schützt die oben dargestellten Rechtsgüter. Die strafrechtliche Folge einer Rechtsverletzung ist die Bestrafung nach den Regeln des Strafrechts. Das Zivilrecht schützt ebenfalls Rechtsgüter. Es stellt sicher, dass Schäden ausgeglichen werden, wenn die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs vorliegen. Deshalb kann ein Handeln sowohl strafbar sein, als auch zu einem Schadensersatzanspruch führen.
Die Haftung für einen – im Zusammenhang mit einer Zwangsmaßnahme – sich ereignenden Schaden kann sich aus dem Heim- bzw. Krankenhausvertrag (§ 280 Abs. 1 BGB) oder als gesetzliche Haftung (§ 823 BGB ggf. i. V. m. einem Schutzgesetz) ergeben.
Entscheidend ist stets die Frage, ob eine schuldhafte Pflichtverletzung der Mitarbeiter der Einrichtung vorliegt. Bei einer ärztlichen Behandlung hat den Regeln der ärztlichen Kunst, also mindestens dem im Zeitpunkt der Behandlung geltenden medizinischen Standard zu entsprechen. Für andere Heilberufe beurteilt sich die Handlungspflicht nach dem allgemein anerkannten fachlichen Standard (Palandt 2020, § 823 Rn. 142). Daraus folgt, dass den ärztlichen Leitlinien eine besondere Bedeutung zukommt. Deshalb sollten diese auch bei der Erarbeitung von Vorgaben zum Umgang mit Zwangsmaßnahmen Berücksichtigung finden.
Im Rahmen des Schadensersatzes wird nicht nur ein finanzieller Verlust, ein sog. Vermögensschaden, ausgeglichen. Der Geschädigte kann auch für immaterielle Schäden Schadensersatz in Geld gemäß § 253 Abs. 2 BGB verlangen (Palandt Bürgerliches Gesetzbuch, 74. Auflage, § 235, Rn. 2). Dies ist der Fall, wenn es zu einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung gekommen ist.
Fallbeispiel
(angelehnt an LG Marburg, Urt. v. 19.07.1995 – 5 O 33/90)
Für die rechtswidrige Einweisung und Unterbringung eines 22-Jährigen in einer geschlossenen Psychiatrie für die Dauer von 9 Jahren und das Verabreichen von insgesamt 2,3 kg Neuroleptika erhielt der Geschädigte für die aufgrund der ärztlichen Falschbegutachtung erlittenen physischen und psychischen Schäden ein Schmerzensgeld in Höhe von 255.645,00 Euro zugesprochen.
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