Einheitspsychose 
Das im Folgenden entwickelte Konzept der Einheitspsychose geht davon aus, dass alle schweren psychischen Krankheiten Ausdruck einer einzigen zugrunde liegende Störung sind, die sich in einem fortlaufenden Prozess mit unterschiedlichen Symptomen äußert. In diesem Sinne unterscheidet Jean Étienne Dominique Esquirol (1772–1840) vier verschiedene Phasen: zunächst die Melancholie, dann die Monomanie (womit er einzelne Symptome meinte, im Gegensatz zu einer allumfassenden Erkrankung), darauf die Manie und schließlich die Demenz. Esquirol sieht einen kausalen Zusammenhang zwischen einer fortschreitenden Erkrankung und strukturellen Veränderungen und nimmt an, dass die dauerhafte Beanspruchung durch Krankheit und seelisches Leid zu einer Schädigung des Nervensystems führt. Der Gedanke der Einheitspsychose wird von Joseph Guislain (1797–1860) über Ernst Albert Zeller (1804–1877) an Wilhelm Griesinger (1817–1868) weitergegeben. Guislain und Zeller sehen dabei, in Abwandlung von Esquirol, Melancholie, Manie, Verrücktheit und Demenz als charakteristische Stadien an.
Psychiker und Somatiker 
Die Psychiatrie zu Zeiten Griesingers ist geprägt von den divergierenden Sichtweisen der Psychiker und der Somatiker. Während die Somatiker biologische Ursachen für psychische Störungen postulieren, sehen die Psychiker die Bedeutung innerpsychischer Vorgänge, ohne allerdings eine vermittelnde Rolle des Gehirns gänzlich auszuschließen. Griesinger nun betont einerseits, dass psychische Krankheiten grundsätzlich Krankheiten des Gehirns sind und verortet die Psychiatrie entsprechend in die Medizin. Andererseits sieht er auch die Bedeutung psychosozialer, lebensgeschichtlicher Faktoren für die Krankheitsentwicklung und ebnet damit der modernen bio-psycho-sozialen Sicht mit der Annahme vielfältiger Krankheitsursachen den Weg. Konsequenterweise haben für Griesinger damit auch Therapieformen ihren Stellenwert, die nicht nur rein somatisch ansetzen (Überblick in Schott und Tölle 2006).
Krankheitseinheiten nach Emil Kraepelin 
Die Hypothese der Einheitspsychose ist aufgrund der klinisch zu beobachtenden Vielfalt der Erkrankungen nicht haltbar. Emil Kraepelin (1856–1926) lehnt dieses Konzept deshalb ab und beginnt mit der Konstruktion sogenannter Krankheitseinheiten. Jede dieser Krankheitseinheiten soll dabei auf einer spezifischen Ursache beruhen. In seinem Bestreben nach Abgrenzung unterscheidet er deutlich zwischen somatischen und psychischen Bereichen und legt damit die Grundlage für das bereits erwähnte triadische System. Darüber hinaus bezieht er mit der Betrachtung des klinischen Verlaufs den Längsschnitt in seine Klassifikation mit ein. Auf diese Weise kommt er 1899 in der 6. Auflage seines psychiatrischen Lehrbuchs (Kraepelin 1899) zur noch heute gültigen Unterteilung der sogenannten endogenen Psychosen in Dementia praecox (später von Eugen Bleuler (1857–1939) als Schizophrenie bezeichnet) und manisch-depressives Irresein (heute: bipolare affektive Störung).
Einteilung gemäß der Ursachen 
Wie schon im vorherigen Abschnitt ausgeführt (
Kap. 1.5), spiegelt das triadische System der Psychiatrie die Idee Kraepelins wider, Erkrankungen entsprechend ihrer Ursache einzuteilen. Auf diese Weise können erstens Erkrankungen mit klar organischer Ursache, zweitens solche mit (noch) nicht näher bekannter, aber vermuteter somatischer Pathologie und drittens Variationen des Normalpsychologischen einschließlich der Reaktion auf Ereignisse unterschieden werden. In historischen Begriffen ausgedrückt gliedert das triadische System also das breite Spektrum psychischer Erkrankungen entsprechend exogener, endogener und psychogener Ursachen. Auch wenn diese Einteilung starr anmuten mag, ist sie doch gerade für den Anfänger in der Psychiatrie äußerst hilfreich. Hier sind die wesentlichen Kategorien formuliert, die bei der Diagnostik bedacht und im Ausschlussverfahren angegangen werden müssen (
Kap. 2.8).
Einteilung nach Kurt Schneider 
Das Fundament für die moderne Einteilung der ICD-10 legt nun Kurt Schneider (1887–1967), der seinerseits wesentlich durch das Werk von Karl Jaspers (1883–1969) beeinflusst ist. Auch Schneider unterscheidet je nach Grundlagen und postulierten Ursachen »körperlich begründbare Psychosen«, »Zyklothymie und Schizophrenie«, »Schwachsinnige und ihre Psychosen«, »abnorme Erlebnisreaktionen« und »psychopathische Persönlichkeiten«. Im engeren Sinne konzentriert sich die Unterscheidung allerdings im Sinne von Jaspers auf zwei Gruppen, nämlich »seelisch Abnormes als Folge von Krankheiten« (also Psychosen) und »abnorme Spielarten seelischen Wesens« (
Tab. 1.1).
ICD-10 
Die an der Ätiologie ausgerichtete Einteilung Schneiders spiegelt sich in der ICD-10 wider (
Tab. 1.2). Hier finden sich organische und psychotische ebenso wie affektive Störungen, erlebnisreaktive Störungen sowie Persönlichkeitsstörungen als jeweils eigene Untergruppen. Hinzu kommen in Erweiterung des Schneiderschen Systems substanzbezogene und körperbezogene Störungen sowie Entwicklungsstörungen und Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend.
Tab. 1.1: Einteilung psychiatrischer Krankheiten nach Kurt Schneider
KrankheitsgruppeUrsacheKlassifikation
ICD-11 und DSM-5 
Auch die ICD-11, deren Unterteilung sich eng an das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) anlehnt, beinhaltet die Möglichkeit, dass Erkrankungen gemäß ihrer Ätiologie diagnostiziert und verschlüsselt werden. Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen sind, wie im DSM-5, als reaktive Ereignisse in einem eigenen Kapitel (»disorders specifically associated with stress«) gefasst. Organische Erkrankungen werden anders geordnet als in der ICD-10. In einem umfassenden Kapitel (»secondary mental or behavioural syndromes associated with disorders or diseases classified elsewhere«) sind Syndrome benannt, die sekundär auf eine somatische Erkrankung zurückzuführen sind – unter anderem Psychosen oder affektive Störungen. Hiervon getrennt werden, ebenfalls analog dem DSM-5, Erkrankungen, bei denen neurokognitive Störungen im Vordergrund stehen, also insbesondere Delir und Demenz, in einem eigenen Kapitel (»neurocognitive disorders«) behandelt.
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