Leonhard F. Seidl - Fronten

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Ein bosnischer Waffensammler läuft Amok, ein «Reichsbürger» sinnt auf Rache und eine muslimische Ärztin gerät zwischen die Fronten – ein Kriminalroman nach einem wahren Fall.
Die kurdische Ärztin Roja Özen ist vorbildlich integriert in der oberbayerischen Kleinstadt Auffing. Doch dann erschießt der Bosnier Ayyub Zlatar, als Kind aus Srebrenica geflohen, auf der Wache drei Polizisten – und verschont die anwesende Roja. Alles sieht nach einem Anschlag des IS aus. Roja wird als Komplizin verdächtigt, verliert Patienten, Mann und Freunde.
Markus Keilhofer, aufgewachsen bei seinen Großeltern, fanatischen «Reichsbürgern», will Muslime für das Blutbad büßen lassen. Als er bewaffnet in eine Moschee stürmt, stellt Roja sich ihm in den Weg…
Geschickt verknüpft Seidl die Lebenswege der drei Protagonisten miteinander, die in einem packenden Finale aufeinandertreffen. Ein hochaktueller Kriminalroman über Rassismus und Fanatismus in einer Gesellschaft voller Angst und über den Mut, sich dem entgegenzustellen.
Fronten ist inspiriert von einem wahren Fall aus dem Jahr 1988. Im oberbayerischen Dorfen erschoss ein Mann aus Jugoslawien drei Polizisten, was eine Welle fremdenfeindlicher Reaktionen auslöste. Bis heute hält das Landratsamt Erding Schriftstücke über den Fall unter Verschluss.

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Leonhard F Seidl geboren 1976 in München ist Schriftsteller und - фото 1

Leonhard F. Seidl, geboren 1976 in München, ist Schriftsteller und Sozialarbeiter. Er hat zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, u. a. für seine Arbeit »Beschriebene Blätter – kreatives Schreiben mit straffälligen Jugendlichen«, wofür er freiwillig im Knast saß. Für Fronten bekam Seidl mehrere Stipendien, u. a. war er Stipendiat der Romanwerkstatt Literaturforum im Brecht-Haus sowie der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus München. Mit dem Roman Mutterkorn (Kulturmaschinen, 2011) debütierte er, darauf folgten die Kriminalromane Genagelt (Emons, 2014) und Viecher (Emons, 2015). Seidl ist Mitglied des PEN.

Leonhard F. Seidl

Fronten

Kriminalroman

Inspiriert durch einen realen Fall im oberbayerischen Dorfen

Edition Nautilus GmbH Schützenstraße 49 a D 22761 Hamburg - фото 2 Edition Nautilus GmbH Schützenstraße 49 a D 22761 Hamburg - фото 3

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2017

Originalveröffentlichung

Erstausgabe September 2017

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Druck und Bindung:

CPI – Clausen & Bosse, Leck

1. Auflage

eISBN 978-3-96054-051-9

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.

Mark Twain

Freitag, 4. März 2016

Auffing (Oberbayern)

Ayyub Zlatar

Weil ihn der Schnee zu sehr blendet, sind die Rollos immer noch geschlossen. Trotzdem kneift er die Augen zusammen.

Er hört, wie das Auto beschleunigt, wie immer an dieser Stelle, um dann wieder zu bremsen, falls oder weil durch das Tor ein Auto entgegenkommt. Tacka, tacka, tacka, rollen die Reifen über das Kopfsteinpflaster, das versickerte Salz des Schneeräumers. Dem roten Pfeil ist unbedingt Folge zu leisten, nicht falls oder weil, sondern immer. Das gilt auch für den Agenten des Geheimdienstes, will er nicht auffallen. Und er will nicht auffallen, was aber nichts daran ändert, dass Ayyub ihn erkennt.

Im Gegensatz zu dem schwarzen Pfeil bedeutet der rote Pfeil, dass man in der Defensive ist. Wie er seit Monaten, seitdem sie hinter ihm her sind. Wenn man den schwarzen Pfeil inmitten des roten Kreises auf seiner Seite hat, dann ist man der Angreifer, auf dem Vormarsch, ohne Rücksicht auf Verluste. Verluste fährt man ein, wenn man auch nur eine Sekunde unaufmerksam ist, zurückblickt. Wenn man sie aus den Augen verliert oder nicht ausreichend bewaffnet ist. Seitdem er weiß, dass sie hinter ihm her sind, hat er sich Waffe um Waffe besorgt, Schuss um Schuss. Er ist ausgebildet. Hat Sonntag um Sonntag Schießübungen durchgeführt. Sein Beitrag zum Krieg. Damals hatten die dunklen Mächte noch nicht erkannt, dass er ihnen ebenfalls gefährlich werden konnte. Jetzt ist es zu spät. Auch für die Agenten des Landratsamtes, die mit dem Geheimdienst zusammenarbeiten und ihn seit Wochen gängeln. In einem elfseitigen Brief hat er ihnen erklärt, warum er die Waffen braucht. Dringend braucht. Er dachte, die deutsche Behörde wäre noch nicht von feindlichen Agenten durchsetzt. Sie wollen, dass er sich nicht mehr verteidigen kann, sie hätten lieber die Angreifer entwaffnen sollen, dann hätte er sich nicht bewaffnen müssen. Der Krieg ist auch hier ausgebrochen.

Das Auto auf der Straße, weder Verteidiger noch Angreifer. Und doch Angreifer. Es bremst zu früh, beschleunigt dann aber nicht mehr. Parkt. Türen schlagen zu.

Er widersteht dem Impuls, das Rollo ein wenig hochzuziehen, um durch die kleinen, weißen Scharten hindurchsehen zu können.

Stattdessen zählt er flüsternd: »21, 22, 23.« Ein weiteres Auto, das zu früh abbremst. »21, 22, 23.« Stehen bleibt. Auch der Hubschrauber ist wieder da. Genau wie am Tag zuvor.

Jetzt nicht an Maria denken. Dann würde er sich ihnen ausliefern, als angreifbarer Verteidiger. Angekettet.

Ihm ist heiß, obwohl alle Waffen geladen sind. Er umschließt die Patrone mit den Fingern, saugt die Kälte auf. Umschließt den Schwertanhänger des Vaters.

Es läutet. Rring! Sie kommen. Um ihn zu holen. Er hat keine eindeutige Order, keinen Pfeil. Verdammt. Er befindet sich innerhalb des roten Kreises. Gefahrenzone. Dead or alive. Schwarzer oder roter Pfeil? Angriff oder Verteidigung? »Angriff ist die beste Verteidigung«: Die Kollegen im Schützenverein in Ludwigshafen. Er greift nach seinem Colt, nimmt seine Magnum in die andere Hand, umklammert beide Waffen, spürt, bumm … bumm … bumm … bumm, wie sich sein Herzschlag verlangsamt. Rring! Wie das Klingeln ihn wieder beschleunigt. Es hört sich nach Verhandeln an. Aus. Wieder ein Auto. Tacka, tacka, tacka. »21, 22, 23.« Angriff, »21«, Verteidigung, »22«, Angriff, »23«. Beim dritten Klingeln, Rrring!, lässt er die Griffe los, legt die Waffen auf den abgegriffenen Holztisch. Leise, wie seine Schritte, die sich müde zur Tür bewegen. Draußen warten sie auf ihn. Angriff, »21«, oder Verteidigung, »22«? Er dreht den Schlüssel herum und öffnet. Die Kirchturmuhr schlägt neunmal.

»Grüß Gott. Ayyub Zlatar?«

Das Licht im Gang blendet ihn. Er erkennt lediglich die Umrisse zweier Männer. Und nickt.

»Polizeiwachtmeister Fend. Das ist mein Kollege Stadlmaier.«

»Grüß Gott«, sagt eine dunkle Stimme.

Seine Augen gewöhnen sich an die Helligkeit. Zwei Polizisten stehen vor ihm. Verteidigung.

»Wir sind auf Anordnung des Landratsamtes da, um Ihre Waffen sicherzustellen.« Er sieht ganz genau, wie sie über ihn lachen.

Bumm. Bumm. Bumm. Bumm. Noch bevor er die Hände abwehrend heben kann, halten sie ihm einen Zettel unter die Nase und drücken sich an ihm vorbei in die Wohnung. Wieder fährt ein Wagen vorbei, tack, tack, tack, beschleunigt, tacka, tacka, tacka. Er dreht sich um und sieht den Agenten hinterher, die in seine Wohnung gehen. »21, 22, 23.« Verteidigung.

Keine fünfzehn Minuten dauert es, bis sie alles leergeräumt haben. Bis Waffe für Waffe, Kugel für Kugel in die Kiste gewandert ist. Noch bevor er es verhindern kann. Keine Verteidigung, kein Angriff. Planänderung. Er muss sich die Waffen und die Munition zurückholen. Ohne Waffen kein Angriff und ohne Munition keine Verteidigung. Weder gegen die Polizei noch gegen den Geheimdienst. Er macht einen Schritt zurück. Kneift die Augen zusammen, mustert sie.

»Es fehlen Waffen«, sagt der Polizist.

»Die sind in der Reparatur.«

Er schaut seinen Kollegen an. Der zuckt mit den Schultern und wendet sich zur Tür.

»Kommens doch bittschön später in die Polizeiinspektion und bringens den Reparaturschein. Außerdem brauchen wir noch eine Unterschrift fürs Protokoll.« Wieder ein Grinsen. Er nickt nur. Er will nicht, muss aber. Für Worte ist kein Platz in dieser Zwischenwelt. Ohne Angriff oder Verteidigung. Er muss sich wieder Platz schaffen. Sich einordnen. Seinen Platz schaffen. Seine Jacke benötigt er nicht, aber sein Kragen ist zu eng. Er holt Uho aus dem Keller. Geht in den Hof und lässt ihn fliegen. Ob er will oder nicht.

Seine Sonnenbrille hat er vergessen. Weswegen er fast ein Auto übersieht, das viel zu schnell von rechts kommt, tacka, tacka, tacka, als er auf die Straße tritt. Bumm, bumm, bumm, bumm. Hupt. Er springt zurück auf den Gehweg, wohin sie ihm nicht folgen. Dieses Mal haben sie es nicht geschafft, ihn zu beseitigen. Genauso wenig wie der rote Mercedes, den sie erst gestern gegen den gelben Renault ausgetauscht haben. »21, 22, 23.«

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