Leonhard Michael Seidl
Schwarzer Regen Rotes Blut
Kriminalroman
Mai 1945 Im Mai 1945 kehren viele deutsche Soldaten in die Heimat zurück. Der Krieg hat den Männern jegliche Sensibilität geraubt. Vier von ihnen machen im Wirtshaus Pfanzelt im Dorf Schachtenstein im Zwiesler Winkel Halt. Sie essen, trinken viel Alkohol und werden gewalttätig. Schließlich belästigen sie die junge Wirtin und bedrängen sie. Es gibt Tote. Polizeikommissär Leo Klemm übernimmt den Fall. Kurz darauf tötet jemand die Kinder des flüchtigen Mörders Michael Dorn – aus Rache für den Tod der Wirtsfamilie? Klemm befragt die Bewohner des Dorfes und stößt dabei auf eine Mauer des Schweigens. Die amerikanische Besatzungsmacht verliert die Geduld. Sie entzieht Leo Klemm den Fall und beauftragt den beinharten Captain Malic, einen Deutschenhasser, die Mörder mit allen Mitteln dingfest zu machen.
Leonhard Michael Seidl, geboren 1949 in München, ist Autor und Musiker. Seine Werke umfassen Romane und Theaterstücke. Sie wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Seidl lebt mit seiner Familie bei München. Mehr erfahren Sie unter: www.dreamcompany.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Viechtach1979_(3).jpg
ISBN 978-3-8392-6796-7
»2016 Writer in Residence, Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte, Meran«
Sonntag, dreizehnter Mai 1945
Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), wird in Flensburg von britischen Soldaten verhaftet. Generaloberst Alfred Jodl, bisher Chef des Wehrmachtsführungsstabes, wird zu seinem Nachfolger ernannt.
Am Waldrand lagerte es ruhig in der Maisonne. Ein etwas heruntergekommenes Gebäude, zweigeschossig, außen weiß getüncht, mit einem umlaufenden Balkon und grünen Läden an den kleinen, der Kälte trotzenden Fenstern. Den Hof zierte ein Brunnen, der schon lange ausgetrocknet war. Seitlich davon zwei kleine Nebengebäude für Traktor und Hänger. Beide leer.
Über der breiten Eingangstür hing eine verblichene Holztafel mit der Aufschrift »PFANZELT«. Mehr stand nicht darauf. Mehr brauchte es nicht, denn jeder wusste, dass das alte Wirtshaus mit guter Küche und süffigem Bier zum Besuch einlud.
Jedoch – von gutem Essen und süffigem Bier konnte im Augenblick nicht die Rede sein. Die Zeiten waren noch immer unruhig, das Bayernland ächzte unter den Folgen eines barbarischen Krieges, der erst vor wenigen Tagen zu Ende gegangen war.
Die einen hießen das Ende »eine Niederlage«, andere nannten es »die Befreiung«. Es war, wie es war, und das kleine Dorf Schachtenstein im Zwieseler Winkel wartete erschöpft auf die Zukunft.
Das Dorf Schachtenstein also. Unweit der Häuser bahnte sich der Schwarze Regen, ein schmaler Fluss, seinen Weg durch den Wald. Dreihundertelf Einwohner. Ein Wirtshaus. Die Kirche St. Sebastian, der Kramerladen und etliche Bauern. Dazu der Rosshändler Staubwasser. Der Rest Kleinhäusler und Landvolk. Die einen arbeiteten in den Glashütten, die anderen bestellten ein Stück Wald, hielten eine Kuh oder Geißen, vielleicht ein paar Hühner, verdingten sich ihren kargen Lohn als Holzrücker.
Im Augenblick gab es in Schachtenstein weder Vieh noch Hühner noch Rösser zum Holzrücken. Vielleicht hatte einer eine Sau versteckt oder das letzte Huhn gerade geschlachtet. Wo sonst bei den Bauern die Schweine im Kobel standen, sind diese jetzt leer gefegt, als wäre ein Sturm hindurchgetobt. So ähnlich war es ja auch: Der Krieg hatte die Stuben und Ställe ausgekehrt. Selbst Kirchenbänke und Wirtshaustische waren verwaist.
Einspurig war man geworden, einspurig im Denken und einspurig im Wollen. Das Denken richtete sich auf alles, was mit Essen zu tun hatte. Das Wollen gierte nach allem, was Frieden verhieß und Ruhe und ein gutes Auskommen mit den Nachbarn und der Welt versprach.
Das war nicht einfach. Krieg veränderte die Menschen nur für einen Lidschlag. Für ein paar Stunden, Tage, Wochen vielleicht. Dann nahm der Karren der Geschichte wieder Fahrt auf. Dann richteten die Menschen sich wieder ein in der Gegenwart. Dann ging es hinaus in die Zukunft, denn zurück in die Vergangenheit konnten und wollten sie nicht mehr.
Wer das Sterben überlebt hatte, war froh. Manch einer zitterte innerlich, aber man sah es nicht. Andere hatten mehr verloren, das erkannte man an den Krücken, den Prothesen und den zerschossenen Gesichtern.
Manchen waren keine Gliedmaßen abhandengekommen, dafür der Verstand. Viele von denen waren auf dem Felde der Ehre geblieben. Das waren die Glücklichen.
Diejenigen, die kein Glück hatten, hockten in einem Bergwerk in Sibirien oder stachen Torf am Ural. Bis sie zurückdurften, konnte es Jahre dauern.
An jenem sonntäglichen Vormittag stand die breite Eingangstür beim Pfanzelt weit offen, einladend und gemütlich. Wer hier einkehrte, sollte es gut haben, trotz der Misslichkeiten und der mageren Vorräte. Aber eine Brotzeit hatte Altwirt Maximilian Pfanzelt, ein gestandener Metzgermeister, noch immer auf den Tisch gebracht.
Offenbar wirkte das Angebot. Eine Handvoll Männer näherte sich zu Fuß dem Wirtshaus. Es waren abgerissene Gestalten, aber das musste nichts besagen. Kleidung war in diesen Tagen Glückssache. Man vernahm Lachen aus rauen Kehlen, einer warf seine Zigarette in den Hofbrunnen; dann betraten sie die Lokalität.
Im Dorf warteten die Frauen, die Kinder, die Alten auf ihre Ehemänner, Väter und Söhne. Sie hatten gelernt, Geduld zu haben. Jeden Sonntag besuchten sie die heilige Messe. Jeden Sonntag beteten sie das Vaterunser, das Ave Maria und den Rosenkranz. Jeden Sonntag vernahmen sie die Predigt von Pfarrer August Tecklenburg. Mit wohlgesetzten Worten sprach er von der Vergebung der Sünden, von der Bestrafung der Sünder und vom Tod Christi, der für uns am Kreuz gestorben war.
Das sollte es dann gewesen sein?, dachte mancher und ließ die Mundwinkel bis auf den Boden hängen vor lauter Wut und Verzweiflung.
Hätte Jesus doch bloß vorher etwas unternommen, bevor die braune Brut an die Macht gekommen war. Bevor sie die halbe Welt in einen mörderischen Krieg gezwungen hatte. Bevor sie unsere Männer verführte und dann verriet.
Jesus hätte ihr bloß die Gewehre, die Panzer und die Flugzeuge kaputt zu machen brauchen, das hätte er sicher geschafft. Schließlich hatte er bei der Hochzeit zu Kana das Wasser in Wein verwandelt. Aber er hat es nicht getan. Warum denn nicht, Herrgott noch mal?
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