Thomas Seidl
Märchenbuch
Vor langer, langer Zeit
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Inhaltsverzeichnis
Titel Thomas Seidl Märchenbuch Vor langer, langer Zeit Dieses ebook wurde erstellt bei
Der schlafende Riese
Das verwunschene Schloss
Der Unglücksrabe
Der unerwünschte Gast
Der stolze Ritter
Der kleine Fuchs
Der Tag vor dem Tag
Das goldene Schwert
Das Tal der Wünsche
Der faule Bauernjunge
Stupsi, der Tollpatsch
Gnorr, der Gnom
Impressum neobooks
Es war einmal ein Riese, der in einem längst vergessenen Königreich lebte. Der Riese war dort nicht besonders beliebt, denn er war selbst für einen Riesen riesig groß. Wenn er seine rechte Hand hob, dann konnte er mit seinen Fingern durch die Wolken greifen und mit seinen mächtigen Schritten in kürzester Zeit das ganze Königreich durchschreiten.
Doch der Riese musste vorsichtig sein, denn allzu schnell passierte es ihm, dass er etwas zerstörte. Die Leute waren darüber gar nicht erfreut, und darum hatte der Riese auch nicht viele Freunde. Immer wenn er irgendwo vorbeistampfte, hörte er nur: „Pass doch auf, wo du hintrittst! Nein, nicht dorthin! Und auch nicht dahin!“ Viel zu oft passierte ihm dies und darum wusste er manchmal gar nicht, wohin er überhaupt noch treten durfte. Das machte den Riesen sehr, sehr traurig.
Eines Tages stampfte der Riese wieder einmal durch das Königreich. Mitten auf einer Wiese setzte er sich nieder und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Dies tat der Riese sehr oft, denn in diesen Momenten konnte er alle seine Sorgen vergessen. Als schließlich auch der letzte Sonnenstrahl verschwunden war, erhob sich der Riese und wollte sich wieder auf den Weg zu seinem Berg machen. Dort hatte er sich eine riesige Schlafkerbe geschlagen, in der er Nacht für Nacht schlief.
Doch gerade als er sich aus dem Gras erhoben hatte, merkte er ein Zwicken an seinem Hinterteil. Mit seinem rechten Daumen und Zeigefinger entfernte er den – wie er vermutete – Baum, denn durch seine enorme Größe passierte es dem Riesen recht oft, dass er sich auf einen solchen setzte, der ihn dann aus Notwehr piekste. Der vermutete Baum stellte sich aber als eine zerdrückte Kutsche heraus.
Schon krabbelte aus den Trümmern auch deren Besitzer heraus, ein alter Bekannter des Riesen – der Zauberer Trottebart.
„Was hast du mit meiner Kutsche gemacht?“, krächzte Trottebart laut. „Ich habe die Nase voll von dir! Letzte Woche zerstörtest du meinen Garten und heute meine Kutsche. Gott sei Dank habe ich die Pferde gerade zum Wassertrinken geschickt, sonst müsste ich mir jetzt nicht nur eine neue Kutsche, sondern auch noch neue Pferde besorgen. Riese! Niemand will dich hier in diesem Königreich! Ich verzaubere dich! Du sollst für alle Zeit schlafen und nie mehr etwas zerstören. Hokus pokus teraptus!“
Und im gleichen Moment plumpste der Riese an Ort und Stelle zu Boden und fiel in einen tiefen, tiefen Schlaf.
Viele, viele Jahre vergingen, und niemand vermisste den Riesen. Mit den Jahrzehnten vergaß man sogar, dass es ihn jemals gegeben hatte. Währenddessen veränderte sich das Königreich. Die Städte wurden größer, und viele neue Dörfer wurden gegründet. Auch die Pflanzenwelt veränderte sich. Wo früher noch Wälder waren, wichen sie Dörfern, und dort, wo keine waren, wuchsen neue Wälder heran. Der Riese schlief nun schon so lange, dass die Natur meinte, er würde zu ihr gehören. So kam es, dass Wiesen und Wälder über den Riesen hinwegwuchsen. Niemand dachte mehr daran, dass dort ein Riese lag und schlief.
Weitere Jahrzehnte vergingen, und einige Bauern gründeten dort ein neues Dörfchen. Sie legten Felder an, bepflanzten diese und bauten Häuser. Es war ein kleines und beschauliches Dorf, und die Leute fühlten sich wohl.
Eines Tages spielte dort ein kleiner Junge am Waldrand mit seiner Schwester Verstecken. Als das Mädchen mit dem Suchen an der Reihe war, lief der Junge in den Wald und entdeckte dort eine Höhle.
Hurra! Das ist ein toller Ort, um mich zu verstecken!, dachte er und drang weiter in die Höhle ein, bis er zu einem Abgrund kam, bei dem er nicht mehr weiter konnte. Um zu testen, wie tief es da hinunterging, schoss er mit seiner geliebten Steinschleuder, ohne die er niemals das Haus verließ, in die Tiefe.
Draußen zählte die Schwester bis hundert ...
Nachdem der Junge geschossen hatte, begann die Höhle auf einmal zu wackeln, und der Junge vernahm ein sehr lautes Geräusch, fast so, als würde jemand zu ihm sprechen. Es war so laut, dass ihm die Ohren wehtaten.
„Ha...hatschi!!“ Gleichzeitig kam aus der Tiefe ein heftiger Windstoß, der den Jungen so mir nichts, dir nichts vor die Höhle beförderte.
Dort lag der Junge nun ganz verwirrt auf dem Boden und schüttelte und rüttelte sich.
„Haha“, meinte seine Schwester, die ihn gesucht hatte, spöttisch. „Brüderchen, du hast dich aber nicht sonderlich gut versteckt, ich hab dich schon!“
Erschrocken erzählte der Junge seiner Schwester, was passiert war, und gemeinsam erklommen sie den Hügel ober der Höhle.
Plötzlich erklang eine tiefe Stimme: „Was hat mich da in meinem Nasenloch gekitzelt? Was ist passiert? Warum liege ich auf dem Boden und kann mich nicht bewegen?“
Der Junge, der eben gemerkt hatte, dass sie auf einem riesigen Gesicht standen, fragte entgeistert: „Wer bist du? Du hast ein so großes Gesicht! So etwas habe ich noch nie gesehen!“
Da erhob sich die Stimme abermals: „Ich bin der größte Riese dieses Königreiches und fühle mich, als hätte ich tausend Jahre geschlafen!“
Die Geschwister erschraken vor der dröhnenden Stimme des Riesen und liefen zurück ins Dorf. Dort erzählten sie dem Dorfältesten, was passiert war.
Dieser war aber nicht sonderlich erstaunt darüber und fing zu erzählen an: „Vor vielen, vielen Jahren lebte einst ein riesiger Riese in unseren Landen. Keiner mochte ihn wirklich, da er so groß war, dass er mit seinen großen Füßen immer etwas zerstörte. Ständig zertrampelte der Riese etwas. Seien es Häuser, Kutschen oder Gärten, egal, wo immer der Riese auch auftauchte, ging irgendwas zu Bruch. Damals ging ein Gerücht durch die Lande, der Riese sei verzaubert worden, dass er für immer schlafen sollte, um niemals mehr in diesem Königreich etwas zerstören zu können. Doch niemand weiß, was wirklich war. Die Zeit verging, und alles wurde zu einer Legende.“
Mittlerweile hatte es sich im ganzen Dorf herumgesprochen, was die Geschwister entdeckt hatten, und am Dorfplatz entstand eine wilde Diskussion. Manche waren der Ansicht, der Riese sollte einfach weiterschlafen, andere dagegen wollten nicht auf einem Riesen leben. Die Meinungen gingen so weit auseinander, dass am Ende niemand mehr wusste, was zu tun war. So entschied der Dorfälteste, mit dem Riesen zu reden, und stapfte auf den Hügel hinauf.
„Riese“, begann er, als oben ankam. „Was sollen wir nur mit dir machen? Unser ganzes Dorf wurde hier aufgebaut und so, wie es aussieht, stehen unsere schönen Häuschen genau auf deinem Bauch. Wir lieben aber unser Dorf und wollen auch nicht umsiedeln.“
„Oje, oje“, erwiderte der Riese traurig. „Ihr wollt nicht umziehen? Wie, um Himmels willen, soll ich denn dann aufstehen?"
Der Dorfälteste kratzte sich am Bart und fuhr mit ernster Miene fort: „Warum schläfst du nicht einfach weiter? Das wäre für alle am besten!“
„Das ist doch nicht dein Ernst!“, meinte der Riese erzürnt. „Wie wäre es, wenn ich dir vorschlagen würde, einfach für immer zu schlafen? Dies würde dich auch nicht entzücken! Ich schlage dir einen Handel vor. Ihr alle helft mir, dass ich aufstehen kann, dafür helfe ich euch bei der Umsiedlung des Dorfes!“
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