FILM-KONZEPTE 59 - Ulrich Seidl

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Ulrich Seidl (*1952) hat einen nahezu unvergleichlichen Stil, der bis zu seinem ersten Film «Einsvierzig» (1980) zurückreicht. In der Folgezeit drehte Seidl über zwei Dutzend Filme und wurde zu einem der provokantesten Filmemacher Österreichs.
Ulrich Seidl ist nicht nur ein scharfer Kritiker seiner Heimat. Das Werk des Regisseurs zeichnet sich vor allem durch eine einzigartige filmische Stilistik aus: Die meisten seiner Filme vermischen fiktionale Anteile und dokumentarische Techniken; unabhängig von ihrer vermeintlichen Künstlichkeit wirken die Filme realistisch und authentisch. Das bisweilen verstörende Verhalten der Protagonisten, das in Filmen wie «Hundstage», der 2001 den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Venedig gewann, «Im Keller» (2014) oder «Safari» (2016) zum Ausdruck kommt, ermöglicht einen Blick in die dunkelsten Abgründe Österreichs und in die privaten Höllen der Menschen, die porträtiert werden.
Der Band gibt nicht nur eine Einführung in zentrale Aspekte des Seidl'schen Schaffens sowie der Rezeption seiner Filme, sondern befasst sich auch mit den Schlüsselelementen von Seidls Signatur als 'auteur': seiner Kritik an bürgerlichen Verhaltensnormen, seinem Interesse an fotoästhetischen Darstellungsweisen sowie seiner Bereitschaft, die Figuren in kuriosen bis hin zu peinlichen Situationen zu zeigen – alles um seiner Filme willen.

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FILM-KONZEPTE

Begründet von Thomas Koebner

Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

Heft 59 · September 2020

Ulrich Seidl

Herausgeber: Corina Erk / Brad Prager

Print ISBN 978-3-96707-425-3

E-ISBN 978-3-96707-427-7

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Ulrich Seidl Filmproduktion

Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.deabrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Corina Erk

Faction, Tableaus, Voyeurismus. Die Filme Ulrich Seidls – eine Werksichtung

Sandra Kristin Knocke

Wirklichkeit und Interpretation in Ulrich Seidls BILDER EINER AUSSTELLUNG und DER BUSENFREUND

Jörn Glasenapp Die Welt der Mode ist nicht schön. Ulrich Seidls MODELS

Fatima Naqvi Zum Fremdschämen. Ulrich Seidls Filmgrammatik

Brad Prager Real oder realistisch? Inszenierung und Bildkomposition in Ulrich Seidls PARADIES: LIEBE

Claudia Lillge Out of Austria. Sonne, Sand und Großwildjagd in Ulrich Seidls SAFARI

Biografie

Filmografie

Autor*innen

Corina Erk

Faction, Tableaus, Voyeurismus Inhalt Corina Erk Faction, Tableaus, Voyeurismus. Die Filme Ulrich Seidls – eine Werksichtung Sandra Kristin Knocke Wirklichkeit und Interpretation in Ulrich Seidls BILDER EINER AUSSTELLUNG und DER BUSENFREUND Jörn Glasenapp Die Welt der Mode ist nicht schön. Ulrich Seidls MODELS Fatima Naqvi Zum Fremdschämen. Ulrich Seidls Filmgrammatik Brad Prager Real oder realistisch? Inszenierung und Bildkomposition in Ulrich Seidls PARADIES: LIEBE Claudia Lillge Out of Austria. Sonne, Sand und Großwildjagd in Ulrich Seidls SAFARI Biografie Filmografie Autor*innen

Die Filme Ulrich Seidls – eine Werksichtung

I. Fragmentarische Blicke auf das Werk eines umstrittenen Regisseurs

Als einer der bekanntesten österreichischen Regisseure ist Ulrich Seidl, der mitunter als eine der »zentralen Gestalten des europäischen Autorenfilms« 1bezeichnet wird, wohl zugleich auch ein Filmemacher, dessen Werk 2die heftigsten Kontroversen ausgelöst hat. In den nunmehr 40 Jahren seines Schaffens, von denen er über 20 Jahre mit der Drehbuchautorin und Regisseurin Veronika Franz, seiner Partnerin, zusammengearbeitet hat, mit der gemeinsam er 2003 eine eigene Filmproduktionsfirma gründete, hat Seidl Kinoproduktionen ebenso vorgelegt wie Arbeiten für das Fernsehen, Kurzfilme, Fotobücher mit Standbildern aus seinen Filmen oder auch zwei Theaterstücke ( Vater unser , 2004, Volksbühne Berlin; Böse Buben / Fiese Männer , 2012, Münchner Kammerspiele). Dabei ist bereits in seinem Frühwerk aus den 1980er Jahren vieles von dem angelegt, was auch später in seiner Karriere den Stil Seidls ausmacht: starre Kameraeinstellungen mit genau komponierter Kadrierung, Blicke der Personen direkt in die Kamera, die wiederum auf das Gegenüber fixiert zu sein scheint, Personenporträts von Außenseiterfiguren als Grundkonstellation des Gezeigten, das sich dem Hässlichen der Gesellschaft und den Abgründen des Menschen widmet, nicht selten grundiert mit einem erheblichen Maß an Provokationsgestus.

EINSVIERZIG markiert 1980 Seidls Erstling, ein Kurzfilm von 16 Minuten Länge, entstanden an der Wiener Filmakademie. Seidl zeigt darin Karl Wallner, einen kleinwüchsigen Mann mittleren Alters, der mit 14 Jahren aufgehört hat zu wachsen. So handelt es sich bei EINSVIERZIG – im Übrigen Seidls einzigem Schwarz-Weiß-Film – um das Porträt eines Kleinwüchsigen, der sich dem Publikum in Szenen aus seinem Alltagsleben präsentiert. Bereits dieser frühe Film brachte Seidl den im Zusammenhang mit seinem Werk seither immer wieder gehörten Vorwurf der Sozialpornografie ein. Man wird wohl nicht fehl darin gehen zu sagen, dass die schon in und mit EINSVIERZIG praktizierte Form der schonungslosen Darstellung der Menschen vor der Kamera zum Markenkern Seidls geworden ist, so dass EINSVIERZIG letztlich die »Rohform« 3des gesamten folgenden Werks genannt werden kann. 1982 folgte DER BALL (1982), ein 50-minütiger Dokumentarfilm, der in Horn, einer Kleinstadt in Niederösterreich, spielt, in der Seidl aufwuchs. Der Film zeigt Szenen des Schulballs der Gymnasiasten in der Faschingszeit in Form einer Provinzsatire. Bei DER BALL handelt es sich zugleich um Seidls letzten Film an der Filmakademie Wien, denn die angeblich rufschädigende Machart führte zur Demission des Jungregisseurs. Seidls erster Versuch, nach seinem Scheitern an der Filmakademie unabhängig Filme zu machen, blieb denn auch Fragment: LOOK 84 (1984), der keine Filmförderung aus öffentlichen Quellen erhielt und von dem lediglich 26 Minuten im Rohschnitt zu sehen sind, wobei rechtliche Gründe bis heute öffentliche Aufführungen verhindern, widmet sich am Beispiel von Sonja Kirchberger und dem Fotografen Peter Baumann Fotomodellen und der Verlogenheit des Werbegeschäfts – ein Thema, das Seidl später in MODELS (1998) wieder aufgegriffen hat. 1989 schließt KRIEG IN WIEN, eine Zusammenarbeit mit Michael Glawogger und zugleich dessen Abschlussarbeit an der Filmakademie, die Frühphase in Seidls Werk ab: Der Film zeigt Wiener Kleinbürger in ihren Wohnungen und betrunkene Obdachlose in den Straßen Wiens. In Form von Kontrastmontagen werden Ausschnitte aus den Weltnachrichten dokumentarischen Szenen aus dem Leben in Wien gegenübergestellt.

1990 verzeichnete Seidl mit seinem ersten Langfilm, GOOD NEWS: VON KOLPORTEUREN, TOTEN HUNDEN UND ANDEREN WIENERN, uraufgeführt auf dem Filmfestival Locarno, danach bei etlichen weiteren Festivals, darunter Chicago, Hof und Rotterdam, gezeigt und unter anderem mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet, gleich einen ersten Erfolg. GOOD NEWS, der Seidl zum Durchbruch verhalf, zeigt den Tagesablauf von Zeitungsverkäufern auf den Straßen Wiens, Männern aus Ägypten, Indien, Pakistan und der Türkei, und kontrastiert das moderne Sklaventum dieser Sozialverlierer mit dem tristen Leben des Wiener Kleinbürgertums. Zugleich handelt es sich bei GOOD NEWS, fertiggestellt mit der Unterstützung Werner Herzogs, um ein Stadtporträt, um Stimmungsaufnahmen Wiens. In seiner Darstellung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der ausländischen Zeitungsverkäufer in Österreich wirkt GOOD NEWS geradezu journalistisch-reportageartig, wobei in diesem Porträt zugleich die Kunden eben jener Zeitungsverkäufer ins Visier genommen werden. 4Auch der nächste Seidl-Film, MIT VERLUST IST ZU RECHNEN (1992), uraufgeführt auf der Berlinale, beschäftigt sich mit dem Alltagsleben seiner Protagonisten und geht Beobachtungen in einer Grenzregion nach. MIT VERLUST IST ZU RECHNEN zeigt die Suche des Witwers Sepp Paur nach einer neuen Frau, und zwar in Tschechien, wo Paur auf die Witwe Paula Hutterová trifft, die allerdings weder ihre Unabhängigkeit aufgeben noch nach Deutschland umziehen will. Seidl fächert in diesem Film ein ganzes Themenspektrum auf: Verlust von Heimat, der eigenen Jugend und der Liebe, das Leben an der Ost-West-Grenze. 1994 liefert Seidl mit DIE LETZTEN MÄNNER, seinem ersten TV-Film, einen Quotenerfolg: Anhand des Lehrers Karl Schwingenschlögl, der sich eine Ehefrau aus Asien zulegen will und sich zu diesem Zweck mit anderen Männern austauscht, die bereits asiatische Frauen haben, rückt der Regisseur den Konnex aus Liebe/Sex und Neokolonialismus in den Mittelpunkt seines filmischen Interesses, werden die philippinischen Frauen von den österreichischen Männern doch via Agenturen quasi per Katalog bestellt.

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