FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 58 · Dezember 2020
Věra Chytilová
Herausgeberin: Margarete Wach
Print ISBN 978-3-96707-087-3
E-ISBN 978-3-96707-089-7
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © National Film Archive Prag
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
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Margarete Wach
Vorwort
Andreas Rauscher
Durch die Decke des Cinéma vérité. Věra Chytilovás frühe Kurzfilme
Nicole Kandioler Vom Anderen zum Eigentlichen. Věra Chytilovás Filme zwischen Experiment, O NĚČEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963), und Aktivismus, DĚDICTVÍ (DAS ERBE, 1992)
Katěrina Svatoňová Věra Chytilovás Bewusstsein von den Zusammenhängen. Stilisierung als Möglichkeit der Annäherung an die Wahrheit
Margarete Wach Wahrheit(en) und Eigensinn. Věra Chytilová und die Nouvelle Vague
Schamma Schahadat Wohnen in der Vorstadt. Věra Chytilovás PANELSTORY ANEB JAK SE RODÍ SÍDLISTE (GESCHICHTE DER WÄNDE ODER WIE EINE SIEDLUNG ENTSTEHT, 1979)
Margarete Wach Von Forman bis Krumbachová. Drei dokumentarische Künstlerporträts von Věra Chytilová
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Margarete Wach
Vorwort Inhalt Margarete Wach Vorwort Andreas Rauscher Durch die Decke des Cinéma vérité. Věra Chytilovás frühe Kurzfilme Nicole Kandioler Vom Anderen zum Eigentlichen. Věra Chytilovás Filme zwischen Experiment, O NĚČEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963), und Aktivismus, DĚDICTVÍ (DAS ERBE, 1992) Katěrina Svatoňová Věra Chytilovás Bewusstsein von den Zusammenhängen. Stilisierung als Möglichkeit der Annäherung an die Wahrheit Margarete Wach Wahrheit(en) und Eigensinn. Věra Chytilová und die Nouvelle Vague Schamma Schahadat Wohnen in der Vorstadt. Věra Chytilovás PANELSTORY ANEB JAK SE RODÍ SÍDLISTE (GESCHICHTE DER WÄNDE ODER WIE EINE SIEDLUNG ENTSTEHT, 1979) Margarete Wach Von Forman bis Krumbachová. Drei dokumentarische Künstlerporträts von Věra Chytilová Biografie Filmografie Autor*innen
Zwei junge Frauen in bunten Kleidern und Schuhen auf Pfennigabsätzen, platziert in verspielter Pose auf einem Flussboot, das von einer starken Strömung umspült wird. Beide stützen sich mit ihren Ellbogen auf die Lehnen zweier sich gegenüberliegender Holzbänke, eine mit einer frisch gepflückten Möhre in der Hand, die andere in Rückenansicht. Ein symmetrisch aufgebautes Bild mit einem offenen Blickfeld in die Weite der Flussströmung, das aus SEDMIKRÁSKY (TAUSENDSCHÖNCHEN, 1966) stammt, dem bekanntesten und wohl wichtigsten Spielfilm von Věra Chytilová. Ein ikonisch unverbrauchtes Motiv, das die ausgelassen anarchische Stimmung dieses Vorzeigewerks eines subversiven Kunstkinos ebenso transportiert wie auf jene Komponenten verweist, die das Œuvre der tschechischen Regisseurin auszeichnen: konzipierte Farbspiele, Verzicht auf die herkömmliche Narration, typisierte bis skurrile Figuren, hier von Laiendarsteller*innen performt, experimentierfreudige Form, die auf Alinearität und Brecht’sche Verfremdungstechniken setzt, künstlerisch radikaler Zugang zur Realität, zu dessen Modi Improvisation, Grenzüberschreitung und Tabulosigkeit gehörten.
Jacques Rivettes Filmfantasie CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU (CELINE UND JULIE FAHREN BOOT, 1974), eine Art Remake von TAUSENDSCHÖNCHEN, mit dem er Chytilovás Vorläufer Reverenz erwies, endet mit einer Bootsfahrt, die den beiden Protagonistinnen hilft, ein erlösendes Exerzitium zu absolvieren. Das in beiden Filmen vorkommende Bootsmotiv könnte als Referenz für einen transkulturellen Austausch dienen, der sich zwischen der Nova vlná , der tschechoslowakischen Neuen Welle, zu deren Galionsfiguren Chytilová gerechnet wird, und der französischen Nouvelle Vague vollzog. Die starken Verbindungen Věra Chytilovás zum französischen Kino sind unübersehbar. Beginnend mit ihrem Frühwerk, das der Inspiration durch das Cinéma vérité entscheidende Impulse verdankt, deren Spuren Andreas Rauscher in seinem Aufsatz »Durch die Decke des Cinéma vérité. Věra Chytilovás frühe Kurzfilme« folgt. In ihren beiden frühen Kurzfilmen, STROP (DIE DECKE, 1961) und PYTEL BLECH (EIN SACK VOLLER FLÖHE, 1962), spielen die neuen Impulse des zeitgenössischen Dokumentarfilms, die auf das experimentelle Porträt der französischen Gesellschaft in CHRONIQUE D’UN ÉTÉ (CHRONIK EINES SOMMERS, 1961) des Soziologen Edgar Morin und des Ethnologen und Filmemachers Jean Rouch zurückzuführen sind, eine zentrale Rolle. Technische Innovationen wie leichte Handkameras mit einer synchronen Tonaufnahme des On-Location-Sounds ermöglichten nicht nur einen völlig neuen, »unmittelbaren« Blick auf die Wirklichkeit in Abgrenzung zum dozierend-pädagogischen Dokumentarfilm vergangener Dekaden, dessen Off-Kommentare der Direktton verdrängt hat. Die so erreichte Spontanität der Außenaufnahmen sollte auch die »Authentizität des Gelebten« vermitteln, wie Morin es in seinem Manifest »Pour un nouveau cinéma-vérité« formulierte. Der daraus resultierende radikale Bruch mit den sterilen Konventionen des verstaubt wirkenden Studiofilms lieferte wesentliche Anregungen für die Nouvelle Vague, die gegen die Tradition des sogenannten Cinéma de qualité , also gegen kostspielige Literaturadaptionen mit geringem Bezug zum realen Leben der jüngeren Generation, aufbegehrte. Wie weit der Einfluss von Jean Rouch, dem Erfinder des Cinéma vérité und Vorläufer der Nouvelle Vague, ging, kann man an seinem Dokudrama MOI, UN NOIR (ICH, EIN SCHWARZER, 1958) ablesen, in dem er die Schnitttechnik des jump cut und den Einsatz nicht professioneller Schauspieler etabliert hat, zwei Praktiken, die Jean-Luc Godard später verwenden sollte, um seinen Film À BOUT DE SOUFFLE (AUSSER ATEM, 1960) zu gestalten, und die sein Markenzeichen wurden.
Zu dem Diskurs des Cinéma vérité gehören unzertrennlich die Begriffe Wahrheit und Authentizität , die auch in Chytilovás Werk eine zentrale Rolle spielen und Godard 1 1 Vgl. seine Kritik unter »Etonnant«, in: Arts , Nr. 713, 11. März 1959, nachgedruckt unter »Projections du 4 juin«, in: CIP-IDF.org (letzter Zugriff am 6.10.2020). Darin heißt es u. a.: »Le metteur en scène (…) ne traque pas la vérité parce qu’elle est scandaleuse mais parce qu’elle est amusante, tragique, gracieuse, loufoque, peu importe. L’important c’est que la vérité est là«.
zu der enthusiastischen Einschätzung brachten, MOI, UN NOIR würde beispiellose Wahrheitsniveaus erreichen, die im Film festgehalten wurden. Für Rouch war das Cinéma vérité aber keine Wundertechnik, sondern eine Methode, kein Mittel, eine Wahrheit zu enthüllen (gesetzt, sie existiere überhaupt), sondern eine künstlerische Praxis, die auf einer
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