„Steh auf, wenn du am Boden bist! Steh auf, auch wenn du unten liegst! Es wird schon irgendwie weitergehen …“, sang Campino von den Toten Hosen in meinem dunklen Traum, aus dem ich um sechs Uhr mit einem dringenden Bedürfnis erwachte. Eigentlich hatte er recht. Aufstehen, wenn man am Boden liegt. Aufstehen musste ich jetzt sowieso, denn meine Blase wollte es so. Bis acht könnte ich noch liegen bleiben, aber ich hatte eine Idee. Heißt es nicht: „Geteiltes Leid ist halbes Leid“? Diesen Spruch würde ich jetzt anwenden, ich würde zum ersten Mal in meinem Leben meine Traurigkeit jemandem mitteilen. Ich würde sie aus meinem Leben rausschreiben, sie loswerden – an Linda. Sie war diejenige, die alles von mir las, die mir sogar antwortete, wenn ich vollkommenen Unsinn von mir gab. Linda war meine Rettung, mein Anker, meine Leiter, die mich aus der Gletscherspalte der Gefühle bringen sollte.
Also setzte ich mich an den PC, nachdem ich mir noch Wasser für die Brandlöschung geholt hatte, und schrieb ihr, schrieb mir den Ballast von der Seele.
Kapitel 2
Nachdem ich geendet hatte, fühlte ich mich wohler. Wie es Linda beim Lesen meiner ganz privaten Tragödie ging, war mir relativ egal. Ich hatte sie geteilt, damit war mir schon geholfen. Nun konnte ich so halbwegs in Ruhe frühstücken und mich auf meinen Urlaub vorbereiten. Gedanken um einen neuen Job, den ich ja nun benötigte, verschob ich auf die Zeit nach dem Griechenland-Ausflug.
Ich traf Rick um elf Uhr am Flughafen, wo er schon auf mich wartete. Strahlend kam er mir entgegen, merkte aber sofort, dass ich ihm nicht viel Positives mitzuteilen hatte. „Schon wieder nicht?“, fragte er. „Nein“, antwortete ich kleinlaut und blickte zu Boden. „Mann! Du hast es drauf, Klausi! Beim nächsten Mal!“ Diese Nummer kannte ich doch schon. „Es wird kein nächstes Mal geben, Rickie. Weil es nur ein nächstes Mal geben kann, wenn es vorher überhaupt ein erstes Mal gegeben hat!“, schnauzte ich ihn an. „So schlimm gewesen?“ „Schlimmer. Es war ein Albtraum.“
Bei einem Aufmunterungs- und Vorurlaubsbierchen erzählte ich ihm die Geschichte, an deren Ende er aufsprang und mit der rechten Hand in der Luft herumfuchtelte. „So, genau so werden wir dem Didi die Eier abschneiden!“ Er sprang in die Luft, zog die Beine blitzschnell an und ließ seine Absätze auf den Boden krachen, dass sich alle im Flughafenrestaurant zu uns umdrehten. „Und so werden wir darauf herumspringen, bis nur noch Brösel und Schleim übrig sind.“ Ich musste grinsen, das war Rick, wie er leibte und lebte. „Was wir mit der Sabrina-Tussi machen, werd ich mir noch überlegen. Mir wird schon was einfallen.“ Da machte ich mir keine Sorgen, Rick fiel immer was ein.
Wir waren nun doch schon recht spät und beeilten uns zum Check-in-Schalter. Im Gedränge dort stieß Rick mit einer Frau zusammen. Er entschuldigte sich höflich, und da sah ich, was bei ihr zu passieren schien. Der Blick, den ich bemerkte, sprach Bände. Sie wollte sich zuerst wohl aufregen über den pöbelnden Jungen, aber dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, ihre Augen wanderten über den Frauenversteher und blieben einen Augenblick zu lange auf ihm, als dass es mir nicht aufgefallen wäre. „Ist ja nichts passiert!“, meinte sie beiläufig, während sie versuchte, drei große Koffer gleichzeitig zum Schalter zu ziehen. „Wir können Ihnen doch helfen. Komm Klaus, du nimmst den roten, ich den schwarzen Koffer.“ Und bevor sie sich weigern konnte, hatte Rick den Koffer schon einige Meter verlagert. „Gibt’s ein Problem?“, fragte jemand hinter mir. „Nein, Schatz. Diese Jungs waren so nett und haben mir mit den Koffern geholfen.“
Ich drehte mich um und sah Rot. Viel Rot. Ich brauchte einige Gedankenlängen, um zu verstehen, dass das ein T-Shirt war. Der Körper, der in diesem Shirt steckte, war nicht gerade wenig trainiert, und der Kopf, der aus dem Kleidungsstück ragte, war so hoch oben, dass ich meine Hand vor die Stirn legen musste, um noch was zu erkennen. Der Koloss von Rhodos kehrte wohl in seine Heimat zurück. Und Rick hatte ihn anscheinend gerade ein wenig gereizt. Ich lächelte und zog den Schwanz ein, was mir gar nicht schwerfiel. Rick dagegen schüttelte dem Monster-Mann die Hand und entschuldigte sich noch einmal bei der Frau, an deren Hand ein Ehering glitzerte. Im Schatten des Riesen spielten seelenruhig zwei Mädchen, die wohl dazugehörten.
Oh Gott, hoffentlich bemerkt Rick nicht, dass die Frau verheiratet ist! Wenn ja, dann kann das nur böse enden!
An manchen Abenden hatte Rick es sich nämlich zum Ziel gesetzt, nur verheiratete Frauen aufzustöbern, das erhöhte laut ihm die Herausforderung. Diese seien härter zu knacken – die meisten zumindest, manche hätten in der Hinsicht ja gar keine Schale –, aber wenn man sie einmal geöffnet hätte, dann entlade sich eine sexuelle Explosion, die sich in der jahrelangen Eintönigkeit aufgestaut haben müsse. Rick wusste, wovon er sprach; der Abend, als er zum ersten Mal mehr oder weniger unabsichtlich diese Erfahrung machte, ist mir noch sehr gut in Erinnerung.
Wir hatten uns an einem Samstagabend in die Provinz aufgemacht, um Freunde und ein Zeltfest zu besuchen. Während Rick seine Runden drehte, hatte ich es mir mit unseren Freunden an der Theke bequem gemacht. Er suchte nach hübschen Mädels, die sich irgendwo in diesem Zelt wohl versteckt haben mussten. Inzwischen unterhielt ich mich mit unseren Kumpels und den unerwartet doch recht amüsanten Eingeborenen. Einer davon war besonders auffallend, da er alle vorbeirauschenden Frauen um ihre Oberweite befragte. Er wurde von jedem Wesen ignoriert, brüllte aber immer hinterher, dass alles unter Körbchengröße C „nicht zum Anschauen wäre“. Alle rund um ihn amüsierte das furchtbar.
Erst als mir erklärt wurde, dass dies der einzige Priesterseminarist der Ortschaft war, wurde mir klar, warum sich viele Menschen junge Priester wünschen. So ein Pfarrer haucht dem ganzen Gefasel doch wieder Leben ein. Wenn man dauernd in der Wüste lebt wie so ein Mann, dann kann man sich doch in einer Oase nicht mit dem Trinken zurückhalten! Da könnte ich doch auch glatt wieder zum Katholiken mutieren.
Nach zwei Stunden kam Rick atemlos, mit zerrissenem Hemd und verfolgt von einer etwa dreißigjährigen Trachten-Tante, an die Bar und flehte darum, endlich nach Hause zu fahren. Ricks Saat war hier wohl auf äußerst fruchtbaren Boden gefallen, denn die trachtige Dame war zu allem bereit. Sie zerrte und zog an dem Armen, dass das Zusehen Freude machte, sie hatte an dem Abend wohl Ausgang, denn ihr Mann passte auf die drei kleinen Kinder auf, wurde uns erzählt. Augenscheinlich wollte sie ein viertes folgen lassen, zumindest hätte sie gern die notwendigen Übungen dazu erledigt.
Diesmal ließ ich Rick ein wenig zappeln. Obwohl er bettelte, hatte ich alle Zeit der Welt. Während er sich ihrer Küsse und zärtlichen Ganzkörper-Streicheleinheiten kaum erwehren konnte, musste ich mal in Ruhe mein Getränk leeren und freute mich insgeheim über diesen Terroranschlag.
Seither will er gar nicht mehr auf Zeltfeste, er hat wohl Angst, dass ihn die Landmädels fertigmachen könnten. Dabei habe er der Frau damals nur ein paar Komplimente gemacht wie: „Du siehst wirklich sehr gut aus!“ oder „Wenn ich dir beim Tanzen zusehe, fühl ich mich wie im Himmel!“, erzählt er immer wieder. Dass die dermaßen darauf abfuhr, konnte er ja nicht ahnen. Die war schlimmer als der unverwüstliche Hulk in einer wilden Phase. Seither weiß er, dass man verheirateten Frauen gegenüber mit Komplimenten vorsichtig umgehen muss, denn die seien das nicht gewohnt. Verheiratete Frauen kriegen keine Komplimente, zumindest nicht von ihren Ehemännern. Da kann es schon vorkommen, dass einer dann diese Schmeicheleien zu Kopf steigen.
Seine Wirkung auf Frauen war aber unverkennbar und für mich nicht zu erklären. Er war natürlich ein sehr gut gebauter junger Mann und auch nicht unhübsch, aber so viel attraktiver als mich fand ich ihn auch wieder nicht. Trotzdem konnte er beinahe jede rumkriegen.
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