Mit sechzehn hatten Rick und ich mal hin und wieder einen Joint geraucht, ein Schulfreund hatte uns dann Hanfsamen geschenkt. Die Pflanzen wuchsen wie verrückt, wir stellten sie bei meinen Eltern auf den Balkon. Meine Mutter – Vater ging ja nur auf den Balkon, wenn er mal zu viele Bohnen gegessen hatte; das kam so gut wie nie vor, weil er das nicht durfte – bemerkte überhaupt nicht, welche Kuckuckseier sie hier goss und großzog. Sie hätte es auch überhaupt nie gecheckt, wenn nicht, ja wenn nicht der Metzler, der Nachbar von gegenüber, gefragt hätte, ob und wann er wohl auch ein Paar Gramm haben könne.
„Ich weiß, Mama!“, flüsterte ich schuldbewusst ins Telefon. „Und ich hab dir damals schon gesagt, lass die Finger von diesem Teufelszeug und auch von diesem Rick. Das wird mit dem kein gutes Ende nehmen …“ Wieder legte ich das Handy auf den schmierigen Stehtisch des U-Bahn-Standes, nahm die Dose und genehmigte mir einen Schluck. Eine wunderschöne Brünette schwebte vorbei. Als ich bemerkte, dass sich ihre Augen in meine Richtung bewegten, blickte ich cool und lässig durch sie hindurch. Ich fixierte die Wand hinter ihr, sie war wie Luft für mich. Rick hatte recht, Frauen brauchen das. „Yes!“ Mit geballter Faust jubelte ich mir selbst zu. Als ich wieder aufblickte, war die Göttin längst verschwunden.
„Vergiss nicht, dich einzucremen, und melde dich, wenn du angekommen bist. Du weißt ja, wie viel in den Flugzeugen so passiert.“ „Ja, Mama, werde ich. Versprochen. Ganz sicher. Die Verbindung ist ganz schlecht, ich hör jetzt nur noch ein Rauschen. Bis dann.“ Ich legte auf, nahm den letzten Schluck aus der Dose und begab mich festlich gelaunt und nur ganz leicht schwankend zur U-Bahn.
Die Feier war schon in vollem Gange, ich hatte die Eröffnung versäumt. Das machte mir aber nichts aus, denn jetzt kam der große Moment erst. Noch einmal ging ich in Gedanken diese wichtigsten Augenblicke durch. Reingehen, ohne zu zögern, zur Theke streben, weder nach links noch nach rechts blicken. Das Gesicht ernst und gefasst, der Blick starr auf das Ziel gerichtet. Dann ein Bier bestellen, umdrehen und scheinbar ohne Interesse die schmachtenden Blicke der Frauen einfangen. Das Zielobjekt (Nadja, Sabrina, Tanja oder Nicole – je nachdem, welche mir am nächsten steht) erfassen, es ins Visier nehmen, darauf zustreben und dann zuschlagen. So einfach war das. Rick hatte wieder einmal recht, der Typ war wirklich ein Genie, ein Meister.
Ich atmete vor dem Eingang noch einmal tief durch, dann öffnete ich die Tür. „Mach was aus deinem Leben! Nimm es endlich selbst in die Hand! Heute ist der Abend aller Abende!“, sagte ich mir dabei wie in den letzten Monaten in Gedanken vor.
Ricks Plan klappte wunderbar, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken oder irgendjemanden wahrzunehmen, war ich durch den gut gefüllten Saal geschwebt und stand nun an der Bar. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Blicke der vielen Prinzessinnen in meinen Rücken bohrten. Au ja, heute würde es rundgehen. Das Glas Bier stand nun vor mir, der Moment der Wahrheit war gekommen. Mit dosiertem Elan drehte ich mich um und musterte mit versteinertem Gesicht die Anwesenden.
Die Erkenntnis traf mich so unerbittlich, dass ich das halbe Glas mit einem Schluck leerte. So wie ich niemanden wahrgenommen hatte, so hatte auch keine im Saal mich wahrgenommen. Kein Augenpaar war auf mich gerichtet, ich war auch nicht der Einzige mit hellbraunem Anzug und schwarzem Hemd. Verdammt, irgendwas lief hier falsch!
Nervös drehte ich mich wieder um und begann fieberhaft zu überlegen. Was hatte ich falsch gemacht? Sollte ich Rick anrufen?
Ein Schlag auf meinen Rücken riss mich aus meinen Gedanken.
„Hallo, Klaus! Wie geht’s dir?“ Didi, der mir im neuen Großraumbüro gegenübersitzt. Er war hörbar nicht mehr nüchtern. „Danke. Geht. Bin gerade erst gekommen.“ „Und? Hast schon ein Opfer gefunden? Heute soll ja dein großer Abend sein!“ Er grinste mich an, während mein Gesicht zu Stein erstarrte. Woher wusste er? Wie gab’s denn das?! „Du hast in den letzten Tagen ein bisschen zu laut mit Rick telefoniert, das bekommt man dann eben so mit …“, ergänzte er. „Ach so, na ja.“ Mein Hirn rotierte, aber ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Einzige, was mir jetzt einfiel, war, das Glas mal auszutrinken. Das tat ich dann auch, blickte zu Didi, der noch immer auf eine Antwort zu warten schien, und bestellte mir ein weiteres Getränk. Den Penner, den Lauscher, den Telefon-Voyeur neben mir ignorierte ich einfach. Wie hatte das nur passieren können? Mein schöner Plan …
Missmutig brachte ich die nächsten drei Bier in vollkommener Einsamkeit an der Theke zu und tat, was ein Mann macht, wenn er verloren hat. Den Kummer runterspülen. An alte, glorreiche Zeiten denken. Mit sechzehn, ja mit sechzehn, da war die Welt noch in Ordnung gewesen, damals hatte ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst. Sie hieß Bea, ging in meine Klasse und war einfach nur hübsch. Diesen Moment werde ich nie mehr vergessen. Wandertag war angesagt und wir tuckerten mit einem überfüllten Bus durch die Gegend. Sie kam neben mir zu stehen und ignorierte mich. Mehr als ein Hallo hatte sie noch nie zu mir gesagt. Plötzlich bremste der Bus, und da sie sich nicht richtig festgehalten hatte, stürzte sie auf mich. Ihre Lippen klatschten auf die meinen. Das war wirklich magisch. Nach einem Augenblick, der zu lang andauerte, als dass er Zufall hätte sein können, stieß sie sich von mir, wurde puterrot im Gesicht und wandte sich ab. Nach diesem Vorfall habe ich ihr bis zur Matura Liebesbriefe geschrieben, von denen sie keinen einzigen beantwortete. Sie hatte sicher Angst vor ihrem Freund, dem Schwimmstar der Schule, Jens, der aussah wie Arnold Schwarzeneggers Halbbruder und Pranken hatte wie ein ausgewachsener Sibirischer Tiger. Rick, der im Bus neben mir gestanden war, meint heute noch, dass das kein Kuss war, sondern ein Unfall, aber ich bin mir ganz sicher …
Ich brütete so vor mich hin – diese Wünsche-Bücher würde ich morgen in der Früh, bevor ich zum Flughafen fahren würde, rituell verbrennen. Das war doch alles Humbug! –, als mir schon wieder jemand auf den Rücken klopfte. Diesmal aber etwas sanfter. Ich hatte mein Glas schon in der Hand, um Didi damit auf den Kopf zu schlagen. Es war aber gar nicht der Idiot, es war Moni, meine Büro-Kollegin schon seit immer.
„Hallo, Klaus! Wie geht’s dir?“, sagte sie lächelnd. „Hallo!“, erwiderte ich. „Verdammt, warum sieht die denn heute so gut aus? Das gibt’s doch nicht. Ist mir noch nie aufgefallen.“ Sie war ein wenig kleiner als ich, ihre hellbraunen Haare hatte sie aufgesteckt und sie trug ein langes, schwarzes Kleid, das ihre Figur wirklich hervorragend betonte. Normalerweise trug sie Pullis und Jeans, im Sommer vielleicht mal ein olles Blümchenkleid, das aussah wie eine Tapete. Heute – heiß, einfach heiß! Ich schluckte. „Wo ist denn Ralph?“ Ihr lächelndes Gesicht sackte in sich zusammen, sie kämpfte mit den Tränen. „Er hat mich gestern verlassen. Dieser Scheißkerl. Einfach so, von einem Tag auf den anderen.“ Ich nickte mitleidig, in meinem Inneren breitete sich Freude aus. Zielobjekt gefunden? „Magst was trinken?“ „Oh ja, Wodka-Orange bitte.“ Wir tranken nun gemeinsam und sie erzählte mir vom Ende ihrer Beziehung, davon, wie Ralph sich in den letzten Monaten verändert hatte, wie er auf einmal Selbstfindungsseminare besuchte, wie er von einem Tag auf den anderen zum Meditationsguru geworden war und nur noch Tantra-Sex vollziehen wollte, der sich am besten von Freitagabend bis Sonntagvormittag zog.
Meine Frage, ob das denn überhaupt gehe, ignorierte sie. Da musste ich später noch einmal nachhaken, denn irgendwie bewunderte ich diesen Ralph. Ich war ja schon froh, wenn ich mit mir allein länger als drei Minuten zugange war.
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