Wie in Trance legte ich den Weg nach Hause zurück. In meinem Kopf rauschte es nur. Was war da eben passiert? Wie hatte das geschehen können?
„Didi, der Arsch – dem reiß ich eigenhändig die Sacknaht auf, dem werd ich die Eier abschneiden. Der wird sich noch wünschen, niemals geboren worden zu sein. Und Sabrina? Scheiße, ich kann mich doch nie mehr im Büro sehen lassen. Da kann ich doch nach dem Urlaub nicht wieder auftauchen. Das überlebe ich nicht.“ Mit einem Schlag war mir sonnenklar, was ich jetzt zu tun hatte. Zu Hause angekommen, verfasste ich sogleich ein E-Mail.
Lieber Herbert,
da Du sicherlich schon mitbekommen hast, welche Partyspielchen (auf meine Kosten) auf der Eröffnungsfeier durchgeführt wurden, muss Dir klar sein, dass ich keineswegs mehr in der Lage bin, nach dem Urlaub im Büro zu erscheinen.
Nur um das klar und deutlich zu sagen: Ich kündige! Zum nächstmöglichen Termin!
Den Arsch-Job mit dem Schmelzkäse kannst Du gern an Didi abtreten. Der Speichellecker wird mit den Molkereitypen sicher perfekt zurechtkommen.
Liebe Grüße auch an Deine Frau! Ihr Dauergelaber geht nicht nur mir auf den Sack!
MfG
Klaus Böhmer
PS: ICH KÜNDIGE!
Nicht noch einmal lesen, sondern sofort abschicken. Sollte ich jetzt noch einen Wodka kippen? Mein Kopf sagte Ja, aber der Magen fühlte sich nicht allzu frisch an. Also keinen Wodka.
Vielleicht wäre ein Gespräch mit Rick eine Lösung? Ich nahm mein Handy zur Hand. Eine Mitteilung war vor mehr als einer Stunde eingelangt – „Wo bleibst Du? Ich wollte mich doch mit Dir betrinken. Moni“ Ach Moni, nette, liebe, süße Moni. Wenn du wüsstest, ach was, du weißt es sicher schon. Ich fühlte mich hundeelend, so erniedrigt zu werden, so schmachvoll erniedrigt zu werden.
Mir blieb jetzt doch nur, mich aufs Bett zu legen und versuchen zu schlafen, obwohl mir absolut klar war, dass ich kein Auge zubekommen würde. Also holte ich meinen besten Freund (abgesehen von Rick) aus dem Handgepäck, meinen iPod. Die Musik würde mir helfen, die Musik hatte mir immer geholfen.
Nach der Maturafeier musste sie mich aus einem kleinen Tief holen – und hat es geschafft. Ich kann mich noch ganz genau an den Abend erinnern, als ich stockbetrunken versucht habe, ausnahmsweise nicht Bea hinterherzuschmachten, die von Jens recht grob betatscht wurde – was konnte man sich von diesen Händen denn sonst erwarten? –, sondern meine jahrelange Sitznachbarin Annelie zu küssen und zu begrapschen.
Sie war immer so nett zu mir gewesen, wir hatten so oft miteinander gelacht, und in meinem Rausch waren einfach die Gefühle mit mir durchgegangen. Beim Anblick ihres wunderbaren Dekolletés hatte sich das Pulsieren meines Blutes in ein Getöse und Gedonner verwandelt. Sie hatte diese Niagarafälle in meinem Inneren weder mitbekommen noch ansatzweise Ähnliches verspürt, denn sie gab mir eine so saftige Ohrfeige, dass meine Wange noch heute schmerzt, wenn ich nur daran denke. Seither hat sie kein Wort mehr mit mir gesprochen, obwohl jetzt schon sieben Jahre vergangen sind. Rick konnte mir nicht helfen, er war nämlich mit zwei Mädels aus der Nachbarklasse beschäftigt.
Ich landete am Schluss der Feier wie gehabt neben der noch immer zaundürren Bärbel, die aber zumindest nicht mehr boxte, wenn ich in ihre Nähe kam. Als ich aber in meinem Wahn ihren Oberschenkel berührte, stand sie auf und sagte in einem Ton, den ich nie wieder vergessen werde: „Notgeiles Schwein!“
Da habe ich dann meinen Walkman genommen, die Stöpsel in die Ohren gesteckt und den Rest der Nacht allein Musik gehört. Und in der Früh war es besser, die Scham war verflogen, der Rausch der Nacht hatte sich ein wenig gelüftet.
Ähnlich war es auch gelaufen, als Rick und ich etwa ein Jahr später wieder einmal um die Häuser zogen. Er hatte sich angeboten, für mich endlich eine kleine Maus herzurichten, wie er es nannte. Noch heute ist mir schleierhaft, wie er das anstellen wollte. Er würde das schon schaffen, ich solle mich nur in Ruhe an der Bar entspannen. Und tatsächlich, keine Stunde später kam er mit zwei hübschen Mädels im Schlepptau an die Bar. Er zwinkerte mir zu, stellte mir die zwei vor und begann hemmungslos mit der einen zu flirten.
Ein wenig hatte ich von ihm schon gelernt, also unterhielt ich mich mit der anderen. Sie hieß Anna und ihr Lächeln war wirklich süß. Wir tranken so einiges an dem Abend, wovon ich das meiste bezahlte, und als Rick vorschlug, doch zum nahe gelegenen See zu fahren, um dort zu baden, waren die beiden mit Freude dabei. Ich war an dem Abend der Chauffeur, was mir aber in dem Fall überhaupt nichts ausmachte. Denn die Vorfreude darauf, Anna vielleicht nicht nur nackt sehen zu dürfen, trocknete meine Kehle aus.
Die erste Enttäuschung folgte, als Anna sich nicht zu mir auf den Beifahrersitz gesellte, sondern schnurstracks mit Rick und ihrer Freundin Lisa die Rückbank besetzte und die drei dort im Halbdunkel Dinge vollführten, von denen ich überhaupt nicht zu träumen wagte. Ich versuchte mich auf die Straße zu konzentrieren und redete mir ein, dass ich während der Fahrt ohnehin nicht abgelenkt werden dürfe, dass ich meinen Lohn dann am See schon noch erhalten würde. Nebenher schaltete ich das Autoradio ein, Slipknot stampften den Song „Wait and Bleed“ – war da der Titel vielleicht schon ein schlechtes Omen?
Als wir nämlich am See ankamen, sprangen die drei aus dem Wagen, bevor ich überhaupt einparken konnte. Danach waren sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt; ich suchte überall, aber ich konnte sie nicht finden. Ich brüllte, ich rief, ich heulte, aber niemand antwortete mir. Also setzte ich mich ins Auto und hörte Musik. Rick würde ich niemals zurücklassen, Ehrensache.
Im Morgengrauen tauchten sie eng umschlungen auf, alle drei mit einem verträumten Blick und einem sanften, schon beinahe entrückten Lächeln auf den Lippen.
„Klausi, wo warst du?“, grinste Rick. „Ich habe euch sicher eine Stunde lang gesucht, verdammt.“ „Du hättest rufen sollen!“ „Was glaubst du, habe ich getan?“ „Du hast echt was versäumt.“ Die Mädels kicherten, aber mir war gar nicht zum Lachen zumute.
Auf der Rückfahrt schliefen die drei hinten, ich drehte die Musik so laut, wie die Boxen es vertrugen. Rick öffnete nur kurz die Augen, lächelte und meinte: „Du hast es drauf, Klausi! Beim nächsten Mal!“
Die Songs halfen mir damals wirklich. Und genau so würde es auch heute sein, sie würden mich beschützen, meine Schale stärken, meine Mauer wieder aufbauen helfen. Sie würden mich aus dem dunklen Loch ziehen, in das ich gestürzt war.
Ich steckte mir die Knöpfe in die Ohren, drehte die Lautstärke ein wenig zurück – ich wollte ja nicht, dass meine Nachbarn zuhören konnten –, legte mich hin und schloss meine Augen. Der Shuffle-Modus brachte mich über Gary Jules’ „Mad World“ zu Nine Inch Nails mit „Something I Can Never Have“ bis zu Metallicas „Nothing Else Matters“. Die Tränen standen mir die ganze Zeit in den Augen, ich fühlte eine unendliche Traurigkeit in mir. Manu Chaos „Infinita Tristeza“ half dabei noch ein bisschen. Die Frage nach dem Warum ließ mich nicht los. Dass das passiert war, konnte ich nun nicht mehr ändern. Aber warum gerade mir? Warum heute? Ich hatte mich doch an die Vorgaben der Wünsche-Bücher gehalten, ich hatte doch alles genau so gemacht, wie dort vermerkt war. Warum hatte es nicht geklappt? Warum klappte es überhaupt nie? Warum wollte keine Frau mit mir zusammen sein? WARUM? Wenn ich eine ansteckende Krankheit hätte oder hässlich wäre wie das Phantom der Oper … Aber sogar dieses Monster bleibt nicht allein!
Ich brauchte mehr Prügelmusik, das sentimentale Gedudel hielt ich nicht mehr aus. Da musste was eindeutig Gefühlstötendes her. Ich öffnete meine „Prügelliste“ am iPod und sah mir dabei zu, wie Cradle of Filth, Dimmu Borgir, Machine Head, Slipknot, Fear Factory und andere jede Emotion aus meinem Körper brüllten und schlugen. Trotzdem schlief ich irgendwann weinend ein.
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