Nun war ich mir absolut sicher, dass er es hier und jetzt beenden wollte, war mir sicher, dass er selbst dafür sorgen wollte, dass er verlor – und zwar endgültig.
Erneut prallten die Schwerter laut klirrend aufeinander und mein Innerstes zog sich zusammen. »Tu das nicht. Bitte, Rian«, flüsterte ich erstickt, als Jesse einen direkten Angriff vollzog und Rian plötzlich seine Deckung vollkommen öffnete.
»Nein!«, schrie ich auf und stürzte auf ihn zu, sprang, wollte ihn schützen und stand doch nur einen Wimpernschlag später wieder an genau derselben Stelle wie zuvor.
Fassungslos registrierte ich meine Unfähigkeit einzugreifen, musste mit ansehen, wie Rian sich mit voller Absicht in das Schwert fallen ließ. Es folgte ein Schrei, aber der kam weder von Jesse noch von Rian, doch ich wagte nicht, den Blick abzuwenden.
Das Schwert durchbohrte Rian, drang in den Oberkörper ein, und durchdrang ihn vollständig. Die Spitze lugte so gerade eben aus seiner Rückseite heraus, Jesse und die anderen starrten fassungslos zu Rian, der noch immer lächelnd, einfach reglos vor ihm stand.
»Ist es das, was du wolltest? Wie dämlich kann man eigentlich sein?«, schrie Jesse und verzog angewidert sein Gesicht.
»Der 1. Hüter Bohl«, hörte ich die ängstlich geflüsterten Worte hinter mir, doch noch immer war ich nicht in der Lage, den Blick von Rian zu nehmen.
Er trat einen unsicheren Schritt auf Jesse zu und sein Lächeln verbreiterte sich. »Ja, Jesse, genau das wollte ich. Du hast mich erlöst, ich bekam, was ich ersehnte, seit dem Verschwinden von Talil, doch du bekommst nun, was du verdienst. Du wirst unermessliche Qualen durchleben, so wie du sie mir beschertest.«
Er wandte den Blick ab, durch mich hindurch, grinste nun über das ganze Gesicht, und ich sah mich ebenfalls um. Das musste Bohl sein, der außer sich vor Zorn auf den Platz eilte. Hinter sich mehrere Hüter, wie ich vermutete, gefolgt von einem Anwärter, der vorher als Zuschauer mit Jesse hierhergekommen war und Bohl vermutlich über die Vorgänge hier informiert hatte.
Jesse aber erbleichte, zeitgleich drehten sowohl Rian als auch ich uns wieder zu ihm um. »Das alles war dein Plan?«, flüsterte er entsetzt und wich einen Schritt zurück, von Rian fort.
»Durch dich wurde das Leben hier für mich die reinste Qual, doch das wird nichts sein im Vergleich dazu, was dir nun bevorsteht. Du wirst all deine Ehren verlieren und deine Lebensbahn lang büßen. Ich jedoch bin endlich frei.« Er sackte auf die Knie und erst jetzt bemerkte ich die Blutlache, hörte das gurgelnde Geräusch, als er Atem holte. Ein Rinnsal aus Blut lief aus seinem Mundwinkel, dennoch lächelte er weiterhin.
Plötzlich sah er mich direkt an, strahlte, seine Augen funkelten und erst jetzt wusste ich, was ich die ganze Zeit vermisst hatte. Das Funkeln seiner Augen.
Mit einem röchelnden Laut kippte er zur Seite und regte sich nicht mehr.
»Nein«, schrie ich und schreckte hoch, spürte die unruhigen Wölfe, die sich sofort an mich drückten und leise winselten. Verwirrt fuhr ich mir übers Gesicht und hielt plötzlich ein feuchtes Tuch in Händen. Ich blickte auf und sah in Wiltons durchdringende Augen. Starke Wut erfasste mich, doch ich war kaum in der Lage, ein Bein zu heben und begann am ganzen Körper zu zittern.
»Warte noch einen Moment, es wird gleich besser. Das Fieber hat deinen Leib sehr geschwächt.«
Meine Wut blieb, da ich mich aber so zerschlagen fühlte, ließ ich mich matt zurück auf den Rücken sinken. »Es ist von Vorteil, dass du harten Boden gewöhnt zu sein scheinst. Dass du dich überhaupt bewegen kannst, ohne einen Schmerzenslaut auszustoßen, ist erstaunlich«, fuhr er unbekümmert fort.
»Was soll das alles?«, fragte ich, unendlich müde von diesen Erlebnissen, ausgelaugt von diesem Auf und Ab der Geschehnisse, meiner Gefühle.
»Du bist die letzte lebende Seelenwandlerin vom Volk der Dunkelelben, die den Wolf in sich trägt. Doch darüber hinaus ruht in dir die Macht der Splitterseele, unentdeckt und verkümmert. Die Geister unserer Ahnen zeigen dir, was nur für dich allein bestimmt ist. Ich kenne den Inhalt vorher nicht, denn ich bin nur der einstige Mittler zwischen den Welten. Durch die Macht unserer Ahnengeister ist es mir erlaubt, zeitweise in der Welt der Lebenden zu verweilen. Du musst sehen, lernen und verstehen und darfst nicht vergessen. Du siehst Vergangenes und Zukünftiges. Doch es ist der Blick auf das Bevorstehende, denn dies allein ist letztendlich maßgebend. Die Zukunft zeigt dir, wohin der Weg all derer führt, die dir begegnet sind, auf deren Leben du bewusst oder unbewusst Einfluss genommen hast.
Jede Begegnung hinterlässt ihre Spuren, ob wir wollen oder nicht und auch wenn du nicht verantwortlich für die Geschehnisse bist, so trägst du dennoch deinen Anteil daran. Du bist in der Lage, sie zu verhindern, sie zu ändern, wenn du denn die Entscheidung dazu triffst.«
Nachdenklich betrachtete ich ihn. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, und ich bekam meine Gedanken nicht mehr sortiert. Seine Erklärung hallte nur seltsam in mir nach, ohne dass ich in der Lage war, den Sinn zu erfassen.
»Aber warum? Dies wird wohl kaum jeder Dunkelelb erleben, sobald er auf dem falschen Pfad wandelt.«
Er lächelte. »Wandelst du denn auf dem falschen Pfad?«, fragte er herausfordernd.
Wütend funkelte ich ihn an. »Deswegen bin ich doch hier, oder nicht? Weil alle der Meinung sind, ich befände mich auf dem Holzweg. Ich verhalte mich unfair oder was auch immer, aber was ist mit mir? Ja, ich bin geflohen, wenn du so willst, doch ich tat es nicht nur, um mich zu schützen. Ich beschützte auch sie damit. Ich bin innerlich zerbrochen, warum begreift das denn niemand? Und schließlich waren sie es, die mich behandelten, als würde ich jeden Moment durchdrehen und ich weiß nicht, ein Massaker anrichten, was auch immer«, rief ich aufgebracht und fuhr mir durch die Haare.
»Du bist zutiefst verletzt und das in vielen Belangen auch zu Recht. Dennoch musst du begreifen, dass eine Auseinandersetzung in einer Beziehung nun einmal andersartig vonstattengeht. Man streitet sich, aber man versöhnt sich auch wieder. Das ist der Lauf der Dinge, das Leben in einer Familie und in einem Clan, der alle miteinander verbindet. Du jedoch hast die Entscheidung getroffen, allen den Rücken zu kehren, für immer. Und das hat Konsequenzen, weitreichende, wie du selbst bereits erlebtest. Du bist hier, weil du genug gelitten, deinen Frieden verdient hast. Doch den Frieden, den du suchst, wirst du nirgendwo anders finden, als bei deiner Familie und bei deinen Freunden. Wenn du dir etwas anderes einredest, dann belügst du dich selbst und genau das musst du erkennen, bevor du an den Anfang zurückkehrst«, antwortete er, immer aufgebrachter, bis er selbst anfing zu schreien.
»Du kennst mich nicht einmal, weshalb bist du so wütend?«, schrie ich zurück. Seine ganze Art machte mir Angst, nicht, dass ich mich vor ihm fürchtete, doch irgendetwas verbarg er, wirkte so verzweifelt, als würde ich etwas Wichtiges wissen müssen, könnte es aber nicht sehen.
»Was verschweigst du mir?«, fragte ich leise, nicht sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören wollte.
»Du wirst die Möglichkeit bekommen, den Zeitenfluss zu verändern, doch du musst dafür bereit sein, mit jeglicher Konsequenz. Nicht alles ist änderbar, Schicksale, die festgeschrieben sind und deren Verlauf du nicht zu korrigieren vermagst. Du musst dich dem stellen und stark sein. Es wird eine Zeit geben, in der du uns verfluchen wirst. Doch der Schlüssel zu deiner Macht sind deine Erinnerungen.« Aufgebracht fuhr er sich durchs Haar. »Dahinten befindet sich ein Fluss, in dem du dich waschen kannst. Dort liegt eine Tasche, in der du alles Nötige findest, was du dazu brauchst. Wenn du fertig bist, kehre hierher zurück, dann essen wir«, entgegnete er nun tonlos und ging davon, ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen.
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