Mael, Nevan sucht dich, es gibt irgendein Problem mit Ean und er benötigt deine Hilfe. Es geht ihm wieder schlechter«, sprach er die letzten Worte und sah erneut zu mir in die Ecke. Stirnrunzelnd folgte Mael seinem Blick, nickte dann jedoch und verließ das Zimmer. Jul setzte sich neben Kiljan auf das Bett, wandte seinen Oberkörper aber so, dass er immer wieder zu mir hinsehen, mich beobachten konnte. Inzwischen war ich mir sicher, dass er sich meiner Anwesenheit bewusst war und das tatsächlich drei Jahre vergangen sein mussten, denn auch Jul wirkte wesentlich älter als bei unserer letzten Begegnung.
»Willst du mir jetzt ebenfalls erklären, dass ich sie endlich vergessen muss und mein Herz einer anderen schenken soll?«, fragte Kiljan leise, sah ihn jedoch nicht an.
»Nein«, sagte Jul kraftvoll.
Überrascht wandte Kiljan sich ihm zu. »Nein?«, wiederholte er ungläubig und lachte dann kopfschüttelnd. Sanft verwuschelte er Juls Haare und betrachtete ihn.
»Sie versteht noch nicht, wie sehr auch andere leiden, doch das wird sie, hab Vertrauen. Sie ist längst nicht mehr allein auf der Welt. Sie wird es erkennen und zurückkehren.« Mit hochgezogener Augenbraue sah Kiljan zu Jul, der jedoch seinen Blick nicht mehr von mir fortnahm.
»Auch wenn es ihr vielleicht nicht gefallen mag, ist ihr Leben nun erneut unwiderruflich mit unserem verknüpft und jede ihrer Handlungen wirkt sich auf unser Leben aus. Sie wird nicht dafür verantwortlich sein wollen, dass du wegwirfst, wofür wir alle so bitter bezahlen mussten. Auch Ean wird sie nicht in dem Glauben sterben lassen, dass alles seine Schuld ist. Sie mag zu Recht enttäuscht und wütend sein, aber grausam war sie nie. Auch Rian wartet noch immer, denn sie gab ihm ihr Wort, und er vertraut darauf, dass sie es nicht einfach bricht.«
Nicht ein einziges Mal nahm er seinen Blick von mir und eine eisige Gänsehaut überlief meinen Körper.
»Du musst weiterhin daran glauben, Kiljan, doch du darfst dich von deiner Verzweiflung nicht niederdrücken lassen. Du hast gelobt, uns alle zu beschützen, also tu es, tu deine Pflicht, während du weiterhin daran glaubst.«
Nickend erhob er sich, ein leichtes Lächeln im Gesicht. »Du weißt schon, dass du für deine neun Jahre viel zu erwachsen klingst, ja?«
Erst jetzt schien ihm bewusst, dass Jul ihn die ganze Zeit nicht ansah, folgte seinem Blick und starrte nun ebenfalls zu mir in die Ecke.
»Was siehst du?«, fragte er leise, doch Jul schüttelte den Kopf.
»Gib sie nicht auf, ich tue es auch nicht.«
Er öffnete die Tür und Kiljan verschwand aus meinem Blickfeld.
»Du solltest Ean bei den Heilern besuchen«, flüsterte er plötzlich, sah mich jedoch nicht mehr an. »Vielleicht erkennst du dann, dass nicht nur du allein leidest.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich weiß, du willst nicht, dass irgendjemand Erwartungen an dich stellt, doch so ist das nun einmal, sobald man jemanden in sein Herz geschlossen hat. Und das haben wir, auch wenn nicht immer alles ohne Meinungsverschiedenheiten lief. So ist das Leben und niemand, nicht einmal du selbst, ist unfehlbar.«
Er ging hinaus, zog leise die Tür hinter sich zu und ließ mich allein und vollkommen verstört zurück. Frustriert und bekümmert schloss ich die Augen, verstand noch immer nicht, was hier eigentlich geschah.
Kämpfe
Als ich das nächste Mal meine Augen öffnete, hielt mir Wilton erneut eine Schale mit dampfendem Eintopf hin. Langsam richtete ich mich auf. Noch immer schmerzte mein Körper, doch ich fühlte mich ein wenig besser. Ich nahm ihm das Essen aus der Hand und aß, vollkommen ausgehungert.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte ich zwischen zwei Bissen.
»Zwei Mondgänge«, antwortete Wilton gelassen, ich aber verschluckte mich vor Schreck.
»Zwei Tage? Achtundvierzig Stunden?« Fassungslos betrachtete ich ihn.
»Wenn du in Stunden rechnest, sind es sogar noch einige mehr.« Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Schultern.
Misstrauisch besah ich ihn mir genauer, stellte jedoch nichts Ungewöhnliches fest. Also schnupperte ich an dem Essen. »Ist da irgendetwas drin?«, fragte ich vorsichtig und kam mir im gleichen Moment blöd dabei vor. Er würde es mir wohl kaum verraten, selbst wenn es so wäre. Er lächelte wissend, schüttelte aber schließlich den Kopf.
»Du magst stark sein, doch auch du besitzt Grenzen. Aber durch die vielen Wandlungen und deine erlittenen Verletzungen hast du diese überschritten. Hätten die Wölfe den Blutverlust nicht gestoppt, wärst du niemals hierhergelangt. Ob ich dir noch zu helfen vermag, ist nicht gewiss. Deine Seele ist geschunden und verweilt an diesem heiligen Ort. Erst wenn du eine Entscheidung triffst, werden wir die unsere fällen.«
Trotz seiner Worte wurde ich das Gefühl nicht los, dass er dennoch irgendwie nachhalf. »Warum habe ich diese Träume? Es sind doch Träume, oder nicht? Und was wollt ihr entscheiden?«
»Diese Begegnungen dienen dazu, Dinge zu verstehen, solltest du bereit dafür sein. Wenn du dich darauf einlässt, dann helfen sie dir zu begreifen, zu akzeptieren, zu lernen, und letztendlich eine Entscheidung zu treffen. All dies wird dich stärken, für das, was folgen soll.«
»Was für eine Entscheidung? Und was soll folgen?«, fragte ich irritiert, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr ganz folgen zu können und diesmal wirkte sein Blick abgrundtief traurig.
»Als Erstes musst du dich entscheiden, ob du leben oder sterben willst.«
Ich lachte bitter. »O ja, na klar.«
»Du vermagst keine Entscheidung zu treffen, solange du dich dagegen wehrst, die Dinge zu sehen, wie sie sind. All deine Begegnungen ziehen Konsequenzen nach sich, und die wirst du durchleben, immer wieder, bist du die Geschehnisse akzeptierst. Erst dann ist eine Entscheidung möglich.«
Verstohlen betrachtete ich ihn erneut. Er schien zu spüren, dass ich seine Worte nicht wirklich ernst nahm. Aber was wollte er denn tun? Sobald meine Wunden verheilt waren, würde ich gehen und mich mit Sicherheit nicht von ihm aufhalten lassen. Ich hatte keine Lust, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Natürlich war ich mir im Klaren darüber, dass mein Verhalten nicht immer ganz gerecht war. Kiljan, Jul, Mael und einige andere hatten mich freundlich aufgenommen, waren stets um mich bemüht, doch letztendlich ging es nur um mich selbst. Ich war niemandem mehr Rechenschaft schuldig, und mit ihrer Reaktion nach dem Kampf hatten sie sich diese Suppe selbst eingebrockt. Nun konnten sie sie auch auslöffeln. Außerdem wollte ich mich nicht mit meinem schlechten Gewissen Jul oder Rian gegenüber auseinandersetzen, ebenso wenig wie mit meinen Gefühlen für Kiljan. Ihm schuldete ich nichts, absolut gar nichts.
»Du irrst dich. Und ich hoffe und bete zu den Geistern, dass du es erkennen wirst. Wenn du dich dazu entscheiden solltest, zu leben, könnte sich vieles verändern.« Wilton machte eine wischende Handbewegung in meine Richtung. Ich hörte noch das leise geflüsterte Wort »Schlaf«, dann kam nichts mehr, und ich driftete davon.
Noch bevor ich meine Augen richtig geöffnet hatte, nahm ich als Erstes einen scharfen Geruch wahr und verzog das Gesicht.
»Du bist wirklich gekommen«, hörte ich die leisen, angestrengt wirkenden Worte und sah mich um. Ich befand mich ganz offensichtlich bei unseren Heilern und ging zögernd auf das Bett zu. Überrascht bemerkte ich, dass ich mich diesmal in meiner wahren Gestalt befand. »Du bist es wirklich«, flüsterte Ean leise, und ich tat den letzten Schritt. In mir zog sich alles zusammen, und ich unterdrückte krampfhaft den aufkommenden Schrecken. Vollkommen eingefallen lag er da, die Augen stumpf und tief in den Höhlen schien er nur noch ein Schatten seiner selbst.
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