»He, Kiljan, hier bist du. Sie warten bereits auf dich. Was ist los?«, fragte Mael leise und hockte sich zu ihm, betrachtete ihn besorgt.
»Ich kann diesen Schwur nicht sprechen. Ich sollte da draußen sein und sie suchen«, antwortete Kiljan hörbar verzweifelt. »Ich gab ihr mein Versprechen, und was ist es nun wert? Gar nichts. Ich habe sie schon wieder im Stich gelassen, und dieses Wissen frisst mich auf. Wie kann ich ein guter Anführer sein, wenn ich ständig mein Wort breche?« Aufgebracht riss er ein paar Grashalme aus der Erde. »Ich wollte es immer anders als Arel machen. Aber weißt du was? Ich bin kein bisschen besser als er.« Sichtbar gereizt sprang er auf und fuhr sich durch die Haare.
»Kiljan, beruhige dich. Das ist doch Unsinn und das weißt du. Du hast versucht, ihr zu helfen, sie zu schützen, und das wird sie erkennen.«
Kiljan wandte seinen Blick vom Wald ab und sah Mael an. »Und wenn nicht? Sie glaubt, ich hätte sie verraten. Was ist, wenn sie niemals zurückkehrt, was mache ich dann?« Er ging auf den Steg zu. »Diese Ungewissheit bringt mich um. Wenn ich wenigstens sicher sein könnte, dass sie nicht einfach fortbleibt«, flüsterte er leise und voller Qual.
Mael erhob sich ebenfalls und machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, verharrte dann jedoch. »Sie gab Jul ihr Wort, sie wird es halten. Ich sage den anderen Bescheid, dass du gleich nachkommst«, rief er und wandte sich um. Zu spät bemerkte ich, dass er nun genau auf mich zukam und mein Herz hämmerte wild in meiner Brust, doch er schien mich gar nicht zu bemerken. Wortlos ging er einfach an mir vorbei, als wäre ich gar nicht da. Irritiert blickte ich ihm hinterher und sah dann zu Kiljan zurück. Ich konnte seine Verzweiflung beinahe spüren, dennoch saß meine Wut und Enttäuschung tiefer als mein Mitleid, und ich wandte mich ab. Noch ehe ich mir dessen wirklich bewusst war, lief ich bereits in die entgegengesetzte Richtung, lief davon, lief und lief, als wären die Ahnen persönlich hinter mir her. Erst als meine Lungen brannten, verlangsamte ich meinen Lauf und blieb schließlich stehen. Ich wusste, dass ich davonlief, dass ich vor Kiljan floh, und stieß verärgert ein Knurren aus. Ich wollte ihn nicht sehen, wollte nicht wissen, wie es ihm ging. Erneut knurrte ich, weil ich das Bild von ihm, wie er dort voller Verzweiflung auf dem Steg stand, einfach nicht wieder aus dem Kopf bekam.
Abrupt erwachte ich und blickte in unendlich scheinende Augen. »Wer bist du?«, fragte ich misstrauisch, als der indianisch aussehende Dunkelelb mir wortlos eine Schale mit Essen reichte. Stumm betrachtete er mich, aus seinen stechend blauen Augen, die viel zu grell wirkten, in seinem leicht gebräunten Gesicht und die gar nicht zu ihm zu passen schienen.
»Ich heiße Wilton«, entgegnete er mit einer Stimme, die tief in mir ein angenehmes Kribbeln verursachte.
Noch immer hielt er mir die Schale hin. Ich ergriff sie, spürte meinen Hunger nur zu deutlich. »Was geschieht hier?«, fragte ich kauend, als er keine Anstalten machte, irgendetwas Weiteres zu erklären.
»Was meinst du?«, antwortete er.
»Warum bin ich hier? Und wo genau sind wir eigentlich?«
»Du stellst viele Fragen, mehr noch, als du laut aussprichst, doch ich vermag dir die wenigsten zu beantworten«, entgegnete er kryptisch. »Du bist hier, um zu genesen, deine Verletzungen müssen heilen, bevor du dich für einen Weg entscheidest. Alles andere wird sich fügen.« Skeptisch betrachtete ich ihn. Wirklich geantwortet hatte er mir nicht, doch er sagte nichts weiter, reichte mir einen Wasserschlauch und schwieg beharrlich.
Als ich meine Augen öffnete, fluchte ich. Erneut hatte ich nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen war. Wo bin ich, fragte ich mich stumm und schien plötzlich kaum noch in der Lage, zu atmen. Keine fünf Schritte von mir entfernt saß Kiljan auf dem Bett in meinem alten Kinderzimmer, die Füße auf dem Boden, die Ellenbogen auf den Knien abgestützt und das Gesicht in seinen Händen vergraben. Ich lag in Wolfsgestalt in einer Ecke und überlegte fieberhaft, wie ich unbemerkt entkommen könnte, als mit einem Mal die Tür aufging und Mael eintrat.
»Ich wusste, dass ich dich hier finde«, sagte er leise, doch Kiljan zeigte keinerlei Reaktion, als hätte er sein Eintreten gar nicht bemerkt. Behutsam legte Mael ihm eine Hand auf den Arm und Kiljan zuckte zusammen. Ruckartig hob er seinen Kopf, und ich erschrak. Nicht nur, dass er älter erschien, nein, er sah furchtbar aus. Das Gesicht verhärmt, abgemagert und irgendwie leblos.
»Ich bin geflohen. Sie lässt mich nicht in Ruhe.« Sein Blick wirkte gequält.
»Kiljan, du weißt, dass du irgendwann damit abschließen musst. Lass sie los. Es macht dich kaputt.«
Vollkommene Verzweiflung ausstrahlend fuhr Kiljan sich übers Gesicht. »Ich kann nicht«, flüsterte er erstickt. »Es ist einfach nicht möglich.«
Ernst betrachtete Mael ihn. Ich sah, spürte fast sein Unbehagen. »Du weißt, dass ich dein Freund bin, dein bester Freund, deswegen muss ich es jetzt aussprechen: Kiljan, es ist nun drei Jahre her, sie kehrt nicht zurück.« Vorsichtige, nicht weniger verzweifelte Worte, Kiljan jedoch sprang wütend auf.
»Woher willst du das wissen? Du selbst sagtest, dass sie es erkennen wird.« Zornig funkelten sie einander an.
»Ja, das stimmt, das habe ich gesagt, und es tut mir unsagbar leid, das weißt du. Doch du solltest aufhören, einem Wunschtraum hinterherzujagen, der sich nicht erfüllt. Der ganze Clan leidet darunter, und sie überlegen bereits, ob du als Oberhaupt eigentlich noch tragbar bist. Du hast dir geschworen, besser zu sein als Arel. Sieh es ein, du verrennst dich, Kiljan. Mir schmerzt die Seele, ebenso wie dir, dennoch musst du es hinter dir lassen, bevor du dich vollkommen zerstörst. Und Shar hat sich geändert, niemand weiß das besser als du selbst. Sie wäre die perfekte Wahl als Gefährtin, und sie begehrt dich.« Kiljan erstarrte während dieser Worte, ich ebenfalls, dann fuhr er ganz langsam zu Mael herum.
»Mal abgesehen davon, dass ich in keiner Weise das Gleiche für sie empfinde, kannst doch ausgerechnet du mir nicht ernsthaft diesen Vorschlag unterbreiten. Bist du von Sinnen? Sie ist schuld an all dem. Es wäre der größte Verrat, den ich Talil gegenüber begehen könnte.«
Aufgebracht erhob Mael sich. »Kiljan, öffne endlich deine Augen. Siehst du sie hier irgendwo? Sie wird nicht zurückkehren, niemals. Begreifst du das nicht? Und wenn es nicht Shar sein soll, bitte, das kann ich ja sogar verstehen. Doch dann schau dich um. Wenn dir dein Versprechen als Anführer wirklich etwas bedeutet, wird es Zeit, dass du entsprechend handelst. Du lässt uns alle im Stich und wirst alles verlieren, was dir je wichtig war. Verdammt, Kiljan, wach endlich auf!«, schrie er nun und die Tür öffnete sich erneut.
Inzwischen war mir klar, dass sie mich nicht sehen konnten, dennoch hämmerte mein Herz dermaßen in der Brust, dass ich sicher war, dass sie es jeden Moment hören würden.
Jul trat ein und stockte, als er Kiljan und Mael erblickte, trat dann jedoch eilig über die Schwelle und verschloss die Tür. Ich schnappte laut nach Luft, und er wandte sich um, mir direkt zu. Ich erstarrte, unsicher, ob er mich wirklich sah.
»Es tut mir leid, ich hörte Geschrei und dachte, dass sich die Kleinen vielleicht hier hereingeschlichen haben.
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