Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln, doch in seinem abgemagerten Zustand wirkte es eher wie eine Grimasse. »So lange warte ich nun schon auf dich. Nur deinetwegen bin ich noch hier.« Er hustete und hob seine zitternde Hand.
Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mir das nicht nahe ging. Es war furchtbar, so grauenvoll, dass ich sogar meine aufgestaute Wut und meine Enttäuschung vergaß.
Ich ergriff den Becher und half ihm beim Aufrichten. Nur mühsam gelang ihm das Trinken von winzigen Schlucken. Vollkommen erschöpft ließ er sich auf die Kissen zurücksinken und lächelte erneut. »Ich weiß, dass ich kein Recht auf Vergebung habe, doch das ist nicht der Grund, weshalb ich auf dich warte.« Hustend ballte er die Hand zur Faust, sah mich flehend, fast hilfesuchend an. Erst als der Anfall vorüberging und er einige Male zitternd Luft holte, entspannte er sich ein wenig. »Es tut mir leid, so unendlich leid«, flüsterte er, während seine Tränen nun ungehindert seine Wangen hinabliefen, dennoch blickte er mich intensiv an.
»Nur deswegen bin ich noch hier, weil du ein Recht auf diese Worte hattest. Es war mir so unglaublich wichtig und doch erscheint es mir nun erbärmlich, weil es einfach nicht genug ist. Du musst mir glauben, Talil. Es tut mir aufrichtig leid«, wiederholte er eindringlich. Ich nickte stockend. Schwerfällig holte er ein weiteres Mal Atem. Nach meinem Nicken aber entspannte er sich plötzlich, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, regte er sich nicht mehr. Die Stille des Todes füllte den Raum.
»Ich fange wirklich an, dich zu hassen«, erklang es unvermittelt hinter mir.
Langsam wandte ich mich um. Ich hatte Jul bereits an der Stimme erkannt, dennoch erschrak ich erneut, als ich ihn ansah.
»Ich sagte dir, dass du zu den Heilern gehen sollst«, fuhr er wütend fort.
Verwirrt erwiderte ich seinen Blick. »Ich bin doch hier«, entgegnete ich.
Jul schnaubte. »Ja, sechs volle Monde später. Ist dir eigentlich klar, wie sehr er gelitten hat, nur um dich noch einmal zu sehen?«
Ich war so irritiert, dass ich nicht mal auf seinen Ton einging. »Sechs Monate?«, fragte ich und sah wieder zu Ean. »Er ist tot«, flüsterte ich erschüttert.
»Nein, er ist endlich erlöst«,antwortete Jul aufgebracht.
»Aber es sind doch nur Träume. Ich habe keinerlei Einfluss darauf, Jul.«
Niedergeschlagen sah er mich an und schüttelte den Kopf. »Natürlich hast du Einfluss darauf, Talil. Es sind deineTräume. Wenn du es gewollt hättest, dann wärst du einfach gekommen. Aber wir sind dir alle vollkommen gleichgültig.« Er trat auf das Bett zu und legte eine Decke über den leblosen Körper.
»Es ist wahr, dass dir furchtbare Dinge angetan wurden, das rechtfertigt jedoch nicht alles. Du verletzt so viele mit deinem Verhalten, so viele, die das gar nicht verdienen. Seit deinem Verschwinden aß Ean kaum noch etwas. Immer wieder ging er in den Wald und suchte nach dir. Kiljan begleitete ihn oft. Mehrere Mondgänge blieben sie verschwunden.« Eindringlich betrachtete er mich, und mich überkam ein Gefühl von Unbehagen. Was geschieht hier nur, fragte ich mich besorgt.
»Niemals darfst du vergessen, dass du bei jedem, der deinen Weg kreuzt, Spuren hinterlässt. Hier aber bist du Zuhause, hast wieder einen Platz gefunden. Du willst nicht begreifen, dass es Dunkelelben gibt, denen du eine Menge bedeutest und denen dein Verhalten verdammt wehtut.« Er wurde immer lauter und je lauter er sprach, desto fassungsloser starrte ich ihn an.
»Sind die Dinge, die geschehen sind, etwa meine Schuld? Glaubst du das wirklich, Jul?«
»Nein, natürlich nicht. Doch selbst wenn man wütend und enttäuscht ist, läuft man nicht einfach weg und kommt nie wieder. Und genau das werfe ich dir vor. Du hättest wiederkommen müssen«, schrie er, wandte sich abrupt um und lief plötzlich davon. Dennoch hatte ich seine Tränen bemerkt, obwohl er krampfhaft versuchte, sie vor mir zu verbergen.
Mit einem letzten Blick auf den verhüllten Körper von Ean verschwand die Szene vor mir und erneut hüllte mich willkommene Schwärze ein.
Ächzend richtete ich mich auf und sah mich um. Ich befand mich wieder in einem Wald, doch ich war allein, niemand sonst war hier, kein Feuer brannte und auch Wilton wartete diesmal nicht mit einer Schale Eintopf auf mich.
Zögernd erhob ich mich, spürte die leichten Schmerzen und fasste an meine Seite. Erneut sah ich mich um und versuchte, das Unbehagen abzuschütteln, das mich inzwischen vollkommen in Besitz nahm. Ich bekam weder die Szenen mit Kiljan noch die mit Ean und Jul aus meinem Kopf.
Hat Ean wirklich so lange Zeit gelitten, nur um mir zu sagen, dass ihm das alles unglaublich leidtat?
Diese Frage ließ mich nicht wieder los. Auch Kiljans bleiches Gesicht, seine von Kummer gezeichneten Züge ... Verärgert über mich selbst, schüttelte ich den Kopf. Was interessierte es mich?
Langsam trat ich aus der Baumgruppe heraus und erstarrte. Das darf doch alles nicht wahr sein. Entnervt sah ich mich um, doch ich war mir sicher, dass ich diesen Ort nicht kannte, noch nie gesehen hatte und ging zögernd auf das geöffnete Tor zu. So allmählich wurde mir klar, dass auch dies ein Traum sein musste.
Mein Unbehagen wuchs und der gewaltige Bau vor mir erschien mir riesiger, unheilvoller, je näher ich gelangte. Dieser Anblick erinnerte mich an die Festung eines schaurigen Psychothrillers, den ich während meiner Zeit bei den Menschen im Fernsehen gesehen hatte.
Hohe dicke Mauern zogen sich, soweit das Auge reichte, und der einzige Zugang schien das riesige, doppelflügelige Tor zu sein. Das Mauerwerk schimmerte dunkel, wirkte regelrecht bedrohlich. Während ich durch das Tor schritt, überzog eine Gänsehaut meinen Körper. Kurz hinter der Schwelle verharrte ich und hielt überrascht den Atem an.
Im Innenhof herrschte reges Treiben, viele Dunkelelben liefen aufgeregt hin und her und schienen im Begriff, aufzubrechen. Obwohl ich mir inzwischen sicher war, dass niemand mich sehen konnte, brach mir dennoch der Schweiß aus, und ich bewegte mich noch immer nicht von der Stelle. Erst nachdem zwei Dunkelelben an mir vorübergingen, ohne mich zu beachten, setzte ich mich zögernd in Bewegung.
Was soll ich hier?
Dann entdeckte ich einen Hüter, an den ich mich aus meiner Kindheit zwar irgendwie erinnerte, den ich jedoch nicht einordnen konnte. Auch sein Name fiel mir nicht wieder ein.
Er wandte mir den Rücken zu und redete auf jemanden ein, schien angespannt und meine Neugierde trieb mich voran. Es war ein beklemmendes Gefühl, in sein Blickfeld zu treten und darauf zu warten, dass er mich ansprach. Als er es nicht tat, weil er mich anscheinend tatsächlich nicht wahrnahm, ging ich noch einen Schritt näher. Ich wollte endlich einen Blick auf seinen Gesprächspartner werfen und erstarrte im selben Moment.
Rian.
Mein Innerstes drehte sich und krampfte sich gleich darauf schmerzhaft zusammen. Er sah schrecklich aus.
Was geht hier nur vor sich?
»Rian, ich bitte dich. Kehr wieder mit uns heim. Du hast es lange genug hier ausgehalten und kannst wirklich stolz auf dich sein, doch es reicht jetzt.«
Rian aber schüttelte vehement den Kopf. »Ich sagte nein! Ich habe ihr geschrieben, dass ich erst zurückkehre, wenn sie das Gute sieht, und bleibe so lange, bis sie dazu bereit ist.«
Verärgert presste er die Lippen aufeinander. »Das ist lächerlich Rian. Sie kehrt nicht zurück, auch du wirst dich damit abfinden müssen. Was soll das also? Bohl hat mir berichtet, wie sehr sie dir hier zusetzen. Sie hat uns allen den Rücken gekehrt. Du bist ihr nichts mehr schuldig, also komm schon.«
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