»Kiljan, du kannst ihr nicht folgen. Du hast doch gehört, was Ean und Jul sagten, was sie selbst sagte. Sie wird wiederkommen. Gib ihr die Zeit. Und vergiss nicht, so schwer es dir auch fallen mag, wir verlassen uns jetzt auf dich. Du bist unser Oberhaupt, auch wenn du niemals darum gebeten hast. Wir haben viel zu tun und die Aufgaben werden dich ablenken.« Kiljan schnaubte. »Hab ein bisschen mehr Vertrauen, Kiljan. In dich und in sie. Sie wird nicht vergessen, was du ihr bedeutest und sie wird begreifen, dass du recht hattest, oder zumindest nicht unrecht. Die Zeit wird auch ihr helfen, zur Ruhe zu kommen und zu erkennen, dass du sie nur beschützen wolltest.«
Vorsichtig drückte Kiljan die Schulter von Mael und ging den Hügel hinauf zum Plateau. Tief seufzte er und wünschte, er könnte sich irgendwo verkriechen, doch er wusste, dass er gebraucht wurde.
Mael hatte recht. Während all dieser Zeit hatte er sich ununterbrochen gefragt, ob er überhaupt ein Oberhaupt sein wollte, nun aber stellte sich diese Frage nicht länger.
Eines jedoch schwor er sich schon sehr früh: Sollte es jemals dazu kommen, würde er ein besserer Anführer sein, als sein Vater es war, und jetzt musste er genau das beweisen. Später gab es noch genügend Zeit, sich selbst zu bemitleiden und sich seinem Kummer hinzugeben.
Talil
Es erschien mir, als ließen mich die Wölfe einige Stunden ausruhen. Je länger ich währenddessen über die Geschehnisse nachdachte, umso klarer wurde mir, dass ich sie alle nicht wiedersehen wollte. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen, mir ihr Misstrauen deutlich gezeigt, und ich verspürte nicht das Bedürfnis, das noch einmal zu erleben.
Schließlich durchdrang mich die Unruhe der Wölfe und ich erhob mich. Angeführt vom schwarzen Wolf trabten sie los, und ich folgte ihnen tiefer in den Wald hinein. Schon bald vergrößerte sich ihre Anspannung spürbar, und als wir eine vollkommen versteckte Lichtung erreichten, die wirkte, als wäre sie eine Fata Morgana, hielt ich misstrauisch inne. Sie aber liefen um einen Felsen herum und verschwanden aus meinem Blickfeld. Ich zögerte weiterhin und legte mich nieder, ohne die deutlich sichtbare Grenze zu überschreiten. Ich war nicht sicher, was genau geschehen würde, sollte ich sie überqueren. Ich wusste nur, dass ich das, was auch immer dann begann, nicht wieder aufhalten könnte.
Die Wölfe kehrten nicht zurück. Ich schien eingeschlafen zu sein, denn als ich erwachte, dämmerte es bereits. »Du musst dich entscheiden«, erklang plötzlich eine Stimme in meinem Kopf, und ich schreckte hoch, sackte jedoch mit einem jämmerlich klingenden Laut augenblicklich wieder zusammen. Ein heißer Schmerz schoss von meiner Seite durch meinen gesamten Körper und ich hechelte schwer. Behutsam hob ich den Kopf und begegnete dem Blick eines schwarzen Wolfes, doch es war nicht der, der mir den Weg hierher gewiesen hatte. Es war der Wolf aus meinen Träumen. Geschockt erstarrte ich.
Er wandelte sich, ohne ein einziges Geräusch und ging weiterhin auf mich zu. Gebannt beobachtete ich dieses Schauspiel und fragte mich, ob es auch bei mir jemals so anmutig aussehen würde.
Er war ein wunderschöner Wolf, doch was ich nun erblickte, ließ mir den Atem stocken. Er sah aus wie eine Mischung aus Dunkelelb und einem menschlichen Indianer, besaß gebräuntere Haut, als es bei unserem Volk üblich war und dennoch stammte er unverkennbar von den Dunkelelben ab.
Eine Welle der Enttäuschung schwappte über mich hinweg, als mir plötzlich klar wurde, dass nicht mein Vater mich in meinen Träumen besucht hatte, sondern er.
»Du musst dich wandeln, damit deine Verletzungen heilen können, denn dein wahres Ich ist wesentlich mächtiger.«
Nur zögernd erhob ich mich, ließ ihn aber nicht aus den Augen. Misstrauisch musterte ich ihn, vollzog jedoch schließlich die Wandlung. Ich stieß einen lauten Schrei aus, nicht in der Lage, ihn zu verhindern und bemerkte zu spät, dass ich während der Qualen, die durch meinen Körper rasten, die Grenze überschritt. Sichtbar zufrieden lächelte er. Ich hätte ihn gerne gefragt, was das alles zu bedeuten hatte, doch ich bekam keinen Ton mehr heraus. Ich spürte, wie meine Beine unter meinem Gewicht nachgaben, noch ehe ich auf dem Boden aufschlug, verengte sich mein Blickfeld und alles um mich herum wurde schwarz.
Die Träume beginnen
Er fing sie auf, gerade noch rechtzeitig, bevor ihr erschlaffter Körper zur Seite kippte, und hob sie auf seine Arme. Ihm blutete das Herz, spürte er doch ihre gequälte Seele so deutlich, als würde ihr Körper sie gar nicht umschließen. Er war sich nach wie vor nicht sicher, ob sie Talil retten konnten. Dennoch mussten sie es versuchen, das waren sie ihrem Volk schuldig und ihr ebenfalls.
Die äußerst kraftvolle Verbindung zu ihrem Seelensplitter sollte es eigentlich ermöglichen, sie zur Ruhe kommen zu lassen, sie zu stärken, ehe die Visionen begannen ...
Er trug sie um den Felsen herum, und während er auf die Baumgruppe zuschritt, erklang das Fiepen der Wölfe immer drängender, was er ein wenig überrascht in sich aufnahm. Es erschien erstaunlich, dass sie bereits eine so enge Bindung zueinander besaßen, doch es würde ihr hoffentlich helfen, sich zu erholen, aber vor allem, die Visionen zu überstehen.
Auf einem Bett aus Moos ließ er sie vorsichtig hinunter. Augenblicklich legten sich die Wölfe um sie herum. Nachdenklich betrachtete er erst sie, dann die Wölfe und schließlich seine verschiedenen Kräuter. Ihre Seele war schwer geschunden, nichtsdestotrotz schien sie stärker, als er vermutet hatte. Dennoch trug sie viel zu viel Wut und zerstörende Erinnerungen in sich, die in den Hintergrund rücken mussten, damit sie ihre Aufgabe erfüllen konnte. Vor ihm lag ein harter Weg, dies jedoch war nichts im Vergleich dazu, was dieser Pfad für sie bedeuten sollte. Ihre Seele bedurfte der Heilung und Vorbereitung, um einen Neubeginn zu ermöglichen, doch vorher war es erforderlich, dass sie erkannte, welchen Wert ihre Lebensbahn besaß, trotz allem. Sie benötigte den Entschluss zu leben um ihrer selbst Willen.
Bedachtsam wählte er verschiedene Kräuter, die er miteinander verflocht und dann am Feuer entzündete. Je stärker sich der durchdringende Geruch verbreitete, desto mehr entspannten sich auch die Wölfe. Talils Atemzüge schienen ruhiger, wirkten mit jedem weiteren Zug nicht mehr ganz so angestrengt, bis sie schließlich vollkommen entkrampft entschlummerte.
Er holte tief Atem, schloss seine Augen und sandte ein Gebet zu den Geistern und Ahnen, auf dass sie alle gemeinsam ihre nun freigesetzte Seele erreichen mochten.
Leise stimmte er das Lied der Alten an, inhalierte den Rauch, der den glimmenden Kräutern emporstieg, wiegte sich langsam vor und zurück, bis er ihn vollständig ausfüllte ...
Talil
Ich erwachte in Wolfsgestalt, fühlte mich irgendwie seltsam und sah mich um. Irritiert stellte ich fest, dass ich nicht wusste, wo genau ich mich befand. Ich grübelte darüber nach, was als Letztes geschehen war, als ich ein Geräusch hörte und mich hastig umwandte. Lautlos schlich ich in die Richtung und verharrte abrupt vollkommen reglos.
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