Eberhard Schiel - Der Hafen meiner Träume

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In der alten Hansestadt Stralsund ist in den fünfziger Jahren auch die Zeit der «Halbstarken» angekommen, wenn auch in abgeschwächter Form und vom Staat argwöhnisch beobachtet, aber dennoch kaum übersehbar. Wir, die wir damals als Jugendliche Ernst genommen werden wollten, hatten andere Vorbilder als unsere Eltern, andere Vorstellungen vom Leben, von der Liebe und der Freiheit. Wir kippten alte, verstaubte Vorstellungen von Moral und Ethik einfach über Bord, damit die Erwachsenen provozierend. Wir gingen in Gruppen durch die Straßen, trafen uns auf dem Rummelplatz oder in der Milchbar, tanzten die neuen wilden Tänze, den Rock `Roll und den Twist, rauchten nicht mehr heimlich im Dunkeln, sondern an der nächsten Straßenecke, knutschten auf dem Bürgersteig ein Mädchen, trugen Röhrenjeans und schwarze Lederoljacken, Igelschnitt oder Schmalzlocke, hörten den aufpeitschenden Gesang von Bil Haley aus dem Kofferradio, gingen gesittet zur Schule und verwandelten uns in der Freizeit in Kopien der westlichen Idole. Wir waren eben noch jung, unerfahren, doch voller Hoffnung, dass es irgendwann mal wieder anders kommt. Wir, die Halbstarken vom Strelasund.

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Eberhard Schiel

Der Hafen meiner Träume

Stralsund in den fünfziger Jahren

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis Titel Eberhard Schiel Der Hafen meiner Träume Stralsund in - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Eberhard Schiel Der Hafen meiner Träume Stralsund in den fünfziger Jahren Dieses ebook wurde erstellt bei

1. Kapitel: Zwischenstation

2. Kapitel: Die neue Bleibe

3. Kapitel: Vorurteile

4. Kapitel: Originale

5. Kapitel: Die Leinwand ist meine Schultafel

6. Kapite:l Das neue Radio

7. Kapitel: Zeitungsschau mit einem Maikäfer

8. Kapitel: Besuch bei Tante Deti

9. Kapitel: Die Tote auf der Themse

10. Kapitel: Träume am offenen Fenster

11. Kapitel: Orchesterprobe im Schlafzimmer

12. Kapitel: Die Einsegnung

13. Kapitel: Die Schubladen in meinem Kopf

14. Kapitel: Mutters Haushaltstag

15. Kapitel: Mittelklasse in der Mittelschule

16. Kapitel: Winter auf dem Frankenteich

17. Kapitel: Die Bewerbung

18. Kapitel: Das Karussell dreht sich weiter

19. Kapitel: Die heilsame Wirkung des Wassers

20. Kapitel: Reifeprüfung

21. Kapitel: Das Trebelobjekt

22. Kapitel: Vom Schüler zum Lehrling

23. Kapitel: Urlaub im Zelt an der Ostsee

Epilog

Impressum neobooks

1. Kapitel: Zwischenstation

Ein wunderschöner Tag im September des Jahres 1954. Wir packen unsere Koffer und ziehen in die Stralsunder Lambert-Steinwich-Straße. Mutti strahlt über das ganze Gesicht. Hier wollte sie schon immer mal wohnen. Wenn sie früher mich früher an die Hand nahm und wir beide vom Hühnerberg über die Fährhofstraße in das Bürgermeister-Viertel einbogen, um dann gemeinsam weiter über den Weidendamm in die Stadt zu gehen, sagte sie, wie herrlich leben die Leute hier! Die haben sogar alle einen Vorgarten, und hinter dem Haus eine Terrasse und noch einen Gemüsegarten, und wir? Wir hausen seit Jahren in einem jämmerlichen Katen. Wann hört das endlich auf! Ab heute soll es nun alles anders werden. Wir steigen in eine höhere Liga auf, vergessen die Vergangenheit, und freuen uns auf die Zukunft, denn die Wohnung ist ausbaufähig. Mein Gedächtnis noch nicht. Es klammert sich an die Vergangenheit, hat das Schlechte auf dem Hühnerberg fast schon wieder vergessen, denkt nur an die tollen Spiele und die wilden Streiche, die man dort erlebt hat. Mutti fragt, Bübi, was ist los mit Dir? Sieh mal, jetzt brauchst Du nicht mehr im Winter über den kalten Hof aufs Plumpsklo. Wir haben jetzt Wasser-Spülung, Toilette auf dem Flur, das ist doch prima, oder? Ein besserer Trost fällt ihr nicht ein. Mir ist flau im Magen. Ich suche die neue Sanitär-Technik auf. Da sitzt man nun, bilanziert, rechnet mit Plus und Minus, Soll und Haben, Vorteilen und Nachteilen, so als ob man gerade den Kaufmannsladen öffnen würde. Man sieht wieder die Bilder vom Hühnerberg vor sich, die Freunde Dieter und Häse, Herbert und Volker und Peter, und die kleine Freundin Helga, und Lindi. Dieter stakt auf Stelzen wie ein Riese durch die Zwergen-Landschaft des holprigen Hühnerbergs. Wir machen Theater, veranstalten Roller-Rennen, lassen die Kugeln aus Ton, Glas und Stahl ins Loch an der Häuserwand rollen, klettern auf die Bäume des Friedhofs, bauen Zelte, kämpfen gegen imaginäre Feinde, spielen Fußball, streiten und lieben, weinen und lachen, und alles auf kindliche Art. Die Sehnsucht wächst in mir nach dem freien, ungezügelten Leben auf dem Hühnerberg. Was hat dagegen die Lambert-Steinwich-Straße zu bieten? Gleichförmig aneinander gereihte Häuser aus Backstein, auf beiden Seiten. Wie mit der Schnur gezogen. Ein langweiliges Gelände, dazu völlig baumlos. Wer wohnt überhaupt in dieser Straße? Was sind das für Leute? Das interessiert mich schon. Ein Blick in Vaters Einwohner-Jahrbuch für 1937 gibt Auskunft, wer zu damaligem Zeitpunkt hier zu Hause war. Da hieß sie noch Hans-Rose-Straße. Hier sind sie, die kleinen und mittleren Beamten, der Justizangestellte Strötges, der Herr Postinspektor Albrecht, der Lehrer Knebusch, der Revisor Jenz, der Bankbeamte Nagel und der Kontrolleur Demmin, und wie sie sonst noch alle hießen. Für sie wurde das Gelände Mitte der 20-er Jahre aufbereitet, erst als Füllenwiese, dann Mülldeponie und ab 1926 Bauland. Einige der Erstbewohner sind noch in ihren alten Wohnungen anzutreffen. Man lernt sie bei der einen oder anderen Gelegenheit kennen, andere Hausbesitzer haben das Erbe der Väter angetreten. Auf jeden Fall stellen die Beamten immer noch das Gros der Bewohner dieser Straße. Komisch. Früher gehörten wir selbst zu diesem Menschenschlag, auf dem Hühnerberg wurden wir proletarisiert, und nun gerät der Rest meiner Familie wieder unter die Kleinbürger. Mir ist das gar nicht recht, auch überhaupt nicht lustig, von so viel strengen Leuten, von berufsmäßigen Kontrolleuren und Inspektoren umgeben zu sein. Man bildet sich ein, sie säßen hinter dem Fenster im dicken Rentnersessel und beobachten jeden deiner Schritte. Die Pensionäre haben doch sicher Langeweile, schielen gar mit großen Radaraugen in unsere Stube, was wir da so anstellen, wer weiß? Ich bin auf jeden Bürger dieses sorgfältig erbauten Backstein-Viertels erst einmal mißtrauisch eingestellt. Doch ohne Freunde geht es nun mal nicht. Man muß, völlig ungewohnt, Kompromisse machen. Also, junge Burschen von 13 Jahren, wo seid ihr? Fehlanzeige. Keine zu entdecken. Da fängt es schon an. Die Suche wird auf Eis gelegt. Beginnen wir bei unseren Wirtsleuten. Herr Leewe ist 1. Verkäufer bei Sack-Lange gewesen. Jetzt genießt er den Ruhestand. Ein ruhiger, friedfertiger Mensch. Er erzählt gern von seinen Erlebnissen aus dem Ersten Weltkrieg, wenn seine Frau in der Küche zu tun hat. Sonst steht er gewöhnlich unter der Fuchtel seiner Frau, wie Mutter es ausdrückt, aber ist sie außer seiner Reichweite, dann fängt er an zu erzählen. Ich höre ihm gerne zu. Er kann so wunderbar erzählen. Heute steht die Geschichte mit der ersten Patrouille auf seinem Programm:

“Ich habe den Weltkrieg an der Westfront mitgemacht. Eigentlich hatte ich mir geschworen nie eine Waffe in die Hand zu nehmen, aber als unser Kaiser diesen Krieg für unvermeidlich hielt, die Geistlichen ihn segneten und die Freiwilligen “Hurra!” schrien, da bin auch gern ins Feld gezogen. Was galt denn in dieser bewegenden Zeit noch ein Zivilist. Man wäre als Feigling abgestempelt worden. Und das wollte ich auf keinen Fall sein. Nun, ich gehörte einer Spezialeinheit an, war in Koblenz als Abhörfunker ausgebildet worden. Später lagen wir an der Westfront, in der Nähe von St. Quentin. Bisher hatte mich der Tod nur einmal kurz gestreift, als ich in der Stadt aus einem Bücherladen kam und plötzlich Granatfeuer einsetzte. Der Tod grüßte mich und ich grüßte zurück. Das war es. Danach alles wie bisher. Ein Tag glich dem anderen. Eine gewisse Eintönigkeit machte sich breit. Wir vertrieben uns die Langeweile, so gut es eben im Stellungskrieg ging. Ich fertigte einen Kalender an, Bilderrahmen aus Pappe, Lichtschalter aus Draht. Sogar ein dreibeiniges Gestell für einen Topf zum Aufwärmen des Kaffees. Ja, selbst ein Kaffeesieb aus Konservendosen, und ein Dame-und Mühlespiel. Und dann schrieb ich fast jeden Tag einen oder mehrere Briefe, an zu Hause, und an die Freunde, die im Osten standen, an meinen Verein. So vergingen die Tage. Man glaubte schon, der Krieg hätte uns vergessen. Dann kam die Angst wie ein schleichendes Gespenst auf mich zu. Ich kehrte gerade von einem Gang durchs Dorf zur Kompagnie zurück. Es war Abenddämmerung. Alles schien wieder so hübsch ruhig zu werden. Ich freute mich schon auf einen flotten Skatabend mit meinen Kameraden. Da lief mir unser Kompanieführer Maier über den Weg. Er musterte mich mit einem geringschätzigen Blick, fragte mit arroganter Stimme: “Leewe, trauen Sie sich zu, heute Nacht auf Patrouille zu gehen? Aber sicher ist das nichts für Sie. Sie sind doch Schneider von Beruf. Da haben Sie gleich die Hosen voll, waa?” Er lachte über seinen billigen Witz. Ich hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpaßt. Statt dessen salutierte ich vor meinem Vorgesetzten. Ich meldete: “Soldat Leewe für Patrouille bereit, Herr Leutnant!” Leutnant Maier machte ein verdutztes Gesicht. Er sagte: “Leewe, Sie gehen auf Patrouille? Also, gut, nehmen Sie Müller und Schneider mit. Der Tommy macht uns Kummer. Er ballert mit seiner Artillerie wie verrückt. Soll auch in unserem Abschnitt irgendwo auf der Lauer liegen. Kundschaften Sie das aus!” Ich fragte: “Kann ich noch kurz eine Abschiedskarte an meine Mutter schreiben, falls...” Leutnant Maier genehmigte mir zehn Minuten. Ich setzte mich hin und schrieb sinngemäß:

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