Eberhard Schiel - Mein Lieber Sohn und Kamerad

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In den ersten Augusttagen des Jahres 1914 empfindet die Mehrheit der europäischen Bevölkerung nach den politischen Krisen der Vorjahre den Beginn des Weltkrieges als ein reinigendes Gewitter, dass unbedingt notwendig sei. So sieht man dann auch überall diese Bilder: Jubelnde Menschen, flotte Militärkapellen, uniformierte Jugendliche mit einer Blume im Lauf ihres Gewehres, Hochrufe auf den Kaiser oder Zaren. Im kühlen Norden, in Stralsund, der Heimatstadt meines Vaters, ist es nicht anders. Er, der einem christlichen Jugendverein angehört, glaubt plötzlich an Gott und Hindenburg. Die Stunden in seinem Verein werden zum absurden Theater. Dort singen sie Lieder über den Frieden, und gleich danach erklärt der Pastor ihnen die militärische Lage. Einige Freunde von Otto Schiel sind schon als Kriegsfreiwillige im Feld, und er fiebert dem Tag entgegen, da er selbst mit der Waffe in der Hand die zweifelhaften und oft missbrauchten Begriffe von Ehre, Pflicht und Vaterlandsliebe verteidigen kann. Am 3. Juni 1916 ist es endlich soweit. Otto Schiel kommt an die Westfront, zusammen mit mit seinem Vater Ernst Schiel, während meine Großmutter mit ihren vier verbliebenen Kindern an der Heimatfront einen bitteren Überlebenskampf führen muss. Da der Briefverkehr gleich am ersten Kriegstag einsetzt und erst im November 1918 endet, bietet die vorliegende Sammlung der Briefe dem Leser einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt christlicher erzogener Jünglinge während jener «eisernen Zeit», zumal ein Freund des Vaters gleich im September 1914 von der Ostfront berichtet, der andere zum gleichen Zeitpunkt von der Westfront, und dazwischen ab Juni 1916 meine Großmutter Emma Schiel. In diesem Kontext sind diese Briefe für das Studium des Ersten Weltkrieges so wertvoll geworden.

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Eberhard Schiel

Mein Lieber Sohn und Kamerad

Briefe aus dem Ersten Weltkrieg

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Inhaltsverzeichnis Titel Eberhard Schiel Mein Lieber Sohn und Kamerad Briefe - фото 1

Inhaltsverzeichnis

Titel Eberhard Schiel Mein Lieber Sohn und Kamerad Briefe aus dem Ersten Weltkrieg Dieses ebook wurde erstellt bei

Vorwort

Einleitung

VORABEND UND BEGINN DES ERSTEN WELTKRIEGES

BRIEFE 1914

STELLUNGSKRIEG IM WESTEN; BEWEGUNGSKRIEG IM OSTEN: 1915-1916

BRIEFE 1915

BRIEFE 1916

EUROPA IM JAHRE 1917

BRIEFE 1917 - Teil 1

BRIEFE 1917 - Teil 2

DAS LETZTE KRIEGSJAHR 1918

BRIEFE 1918

Literaturnachweis

Impressum neobooks

Vorwort

Der sozialkritische Schriftsteller Franz Kafka, selbst Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, hat einmal gesagt: "Dieser Krieg wurde eigentlich noch nie richtig dargestellt. Gewöhnlich werden nur Teilerscheinungen oder Ergebnisse gezeigt. Das Schreckliche des Krieges ist aber die Auflösung aller bestehenden Sicherheiten und Konventionen. Das animalisch Physische überwuchert und erstickt alles Geistige. Es ist wie eine Krebskrankheit. Der Mensch lebt nicht mehr Jahre, Monate, Tage, Stunden, sondern nur noch Augenblicke. Und selbst die lebt er nicht mehr. Er wird sich ihrer nur noch bewußt. Er existiert bloss."

Als ich diese Zeilen las, da ahnte ich noch nicht, dass mir eines Tages Briefe aus eben jenem Ersten Weltkrieg in die Hände fallen würden. Und das gleich zu Hunderten. Ich fand sie irgendwann auf dem Boden unseres Mietshauses, zwischen verstaubten Pappkartons und ausgemusterten Möbeln, aufbewahrt in einer häßlich-grauen Kiste. Dort müssen sie über vierzig Jahre gelegen haben, ohne dass jemand aus der Familie jemals darüber gesprochen hätte. Erst ein Nachbar machte mich darauf aufmerksam, wollte wissen, ob die Soldatenkiste mir gehöre. Ich schaute hinein, sah ein dickes Bündel Briefe, dazu ein Fotoalbum, Tagebücher, persönliche Sachen aus dem Ersten Weltkrieg, insgesamt etwa 600 Dokumente. Die Briefe waren vom Vater geschrieben oder an ihn adressiert worden. So viel ließ sich auch ohne genaue Kenntnis der alten deutschen Schrift erkennen. Die Frage war nur, ob der Inhalt über den Rahmen des eigenen Interesses an diesem Kapitel der Familien-Geschichte hinausgehen würde. Man mußte ihn lesen können. Anfangs viel es mir schwer, doch allmählich ging es besser. Bald gab es nur noch einzelne Stellen, die Schwierigkeiten bereiteten. Es dauerte nicht mehr lange und mir erschloss sich eine völlig neue, wenngleich auch unerbittliche Welt des Ersten Weltkrieges, mit all ihren Facetten. Und eine zweite Welt, die geprägt war von den Idealen und Ideen christlich erzogener Jünglinge, die sich im Evangelischen Jünglingsverein Stralsund näher gekommen waren. Von diesem Freundeskreis und von den Angehörigen der väterlichen Familie stammen die Briefe. Mein Vater Otto Schiel, Jahrgang 1897, wurde am 3. Juni 1916 gemeinsam mit Opa Schiel eingezogen. Nach mehrwöchiger Grundausbildung, die der eine in Koblenz am Rhein und der andere in Swinemünde an der Oder absolvierte, kamen sie an die Westfront nach Frankreich, ohne sich dort jemals begegnet zu sein. Vater war zu jener Zeit 18 Jahre und Großvater 43 Jahre alt.Viele der Briefe, die Otto Schiel zunächst zu Hause, dann im Feld erhielt, sind in der Hast und Hektik geschrieben worden, manche sogar während der Kämpfe auf den üblichen Feldpostkarten. Da prallen Welten aufeinander. Ihre Wunschvorstellung vom Leben, von der Zukunft, erstickt im Schlamm und Morast, zerplatzt im Hagel der Granaten, den Todesschreien ihrer Kameraden. Es gibt Momente, da sie den Krieg verfluchen, und wiederum Augenblicke, wo sie mit vor Stolz erfüllter Brust das Eiserne Kreuz für eine fragwürdige Heldentat in Empfang nehmen. Die Widersprüche zwischen Geist und Körper, zwischen Traum und Befehl, zwischen den Idealen und der Realität machen den ganzen Wert der gefundenen Briefe aus. Wie werden die jungen Männer, die fast noch Jünglinge sind, mit dieser Konfrontation fertig? Kommen sie geläutert aus dem Kriegsgeschehen heraus, überleben sie überhaupt? Einer auf keinen Fall. Vaters Freund Alfred Meissner meldete sich gleich nach seinem 18. Geburtstag als Kriegsfreiwilliger. Und er glaubte zu wissen, warum er das tat: "Ich tue es für die Heimat, und das sagt mir alles. Sterben kann ich immer einmal, doch einen Heldentod sterben?" Ich lese jene Zeilen und kann es nicht fassen. Aber eine solche Einstellung zum Krieg erklärt zum Teil den unerschrockenen Mut und die Kraft für die unsagbaren Strapazen eines Infanteristen. Zur tiefen Trauer von Mutter, Schwester und der Freunde ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Alfred Meissner starb an einem Tage, an dem die meisten deutschen Soldaten schon gedanklich bei ihren Lieben daheim waren, eben kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges.

Und was geschah an der Heimatfront? Die Heimatfront, das ist in erster Linie meine Großmutter Emma Schiel. Ihre Briefe hatte ich zunächst beiseite gelegt, weil ich sie nicht lesen konnte, und später, weil ich sie lesen konnte. Sie gehen unter die Haut. Mit der deutschen Rechtschreibung steht Oma auf Kriegsfuss, aber sie ist mit dem Herzen dabei. Nachdem "Vatting" Ernst Schiel, Omas Gatte, und ihr Sohn "Otting" am selben Tag zur Fahne gerufen werden, führt die Mutter von fünf Kindern einen verzweifelten Überlebenskampf gegenüber einer immer ruppiger werdenden Gesellschaft. Über all ihre Sorgen, Ängste und Nöte berichtet die tapfere Frau ihrem "Otting" an der Westfront. Über das Schlangestehen beim Fleischer, über die Drangsale des Militärs, der schwierigen Erziehung ihrer Kinder in Abwesenheit des Ehemannes, und dem sonstigen Geschehen in der Stadt. Manchmal findet sie einen Splitter des Glücks im Tal der Tränen, sucht nach der humorvollen Seite des Alltags, erzählt von lustigen Begebenheiten. Dabei fällt ihr, wie gesagt, das Schreiben schwer. Sie ist es nicht gewohnt. Als ehemaliges Dienstmädchen mit mangelnder Bildung unterlaufen ihr katastrophale Fehler. Einige Briefe mussten deshalb behutsam bearbeitet werden. Trotz des strengen Regimes, das sie zu Hause führen muss, sind die Gedanken dennoch stets in Liebe bei dem Gatten und dem Sohn an der Front. Sie rackert im selbst organisierten Garten, schickt laufend kleine Päckchen, deren Größe vom Staat vorgeschrieben werden, und unterhält sich nach getaner Arbeit am Abend, wenn die Kinder zu Bett gebracht, mit ihren Feldgrauen an der Front. Was ihr gerade einfällt, schreibt sie auf und schickt ihre Gefühle über die Ländergrenze nach Frankreich, wo sie begierig von "Otting" und "Vatting" gelesen werden. Von Politik hat sie keine Ahnung, vom Militär noch weniger, und darum gibt sie ihrem Sohn, neben den Liebesgaben im Paket, auch eine erste Ermahnung im Brief mit auf den Weg. "Otting" soll auf gar keinen Fall mehr auf Patrouille gehen. Und wegen baldiger Bewillung eines Heimaturlaubs für ihren Sohn will Emma Schiel mal beim Kompagnieführer schriftlich anfragen, was der dazu sagt. Emma Schiel steht für Millionen von Frauen beider Weltkriege, die still, fleißig und meistens anonym ihren Mann an der Heimatfront standen, während ihre Söhne und Männer sinnlos im Schützengraben lagen. Begleiten Sie also "Mutting" und ihre fünf Kinder Otto, Hans, Gretel, Trude und die kleine Lieselotte durch die schwere, eiserne Zeit.

Einleitung

Die Stadt Stralsund war um die Jahrhundertwende keineswegs mehr jenes "muffige Nest", als das sie noch im Jahre 1850 von eine der ersten deutschen Ärztinnen Franziska Tiburtius bezeichnet wurde. Inzwischen sorgte die Inbetriebnahme des Wasserwerkes Lüssow (1894) für eine wesentliche Verbesserung der Trinkwasser-Versorgung. Und nach der Entfestigung (1873) entstanden schöne Villenviertel, kleine Landhäuschen und blühende Parkanlagen. Unsere alte Hansestadt, jahrhundertelang mit dickem Mauerwerk eingepfercht, das sie wie ein Panzer umklammerte, konnte befreit aufatmen. Hinzu kam das persönliche Engagement des Stadtbaumeisters Ernst von Haselberg. Er griff den Gedanken des traditionellen Baustils wieder auf, benutzte den Backstein, ein Material der Gotik, der lange Zeit für das typische Bild einer Seestadt im Norden Deutschlands sorgte. Neue öffentliche Gebäude fügten sich auf Grund dieser verbesserten Baugesinung harmonisch in das einst vielbewunderte Panorama Stralsunds ein. Auch vom Gesetz her waren die Möglichkeiten zum Schutz des baulichen Gesamtensembles erweitert worden. Eine Kommission zur Erhaltung der Baudenkmale setzte 170 Gebäude auf die Liste der besonders zu pflegenden Objekte. Durch entsprechende Ortssatzungen konnten schon im Ansatz Gefahren bei der Gestaltung oder Verunstaltung von neuen Gebäuden wirksam verhindert werden.

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