B. Zulässigkeit der Revision› VII. Fehlen von Rechtsmittelrücknahme oder -verzicht
VII. Fehlen von Rechtsmittelrücknahme oder -verzicht
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1. In manchen Klausurfällen ist zu erörtern, ob der Zulässigkeit der eingelegten Revision Zurücknahme oder Verzicht i.S. des § 302 StPO entgegenstehen. Das Ergebnis dieser Prüfung wird allerdings – da die eigentlichen Klausurprobleme immer in der Begründetheit der Revision liegen – regelmäßig zur Unwirksamkeit von Zurücknahme oder Verzicht und damit zur Zulässigkeit der Revision führen. Die tatsächlichen Anknüpfungspunkte für die Problematik werden sich insbesondere aus dem Hauptverhandlungsprotokoll oder einem in der Klausuraufgabe enthaltenen Vermerk des Verteidigers ergeben.
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2. Wirksam ist eine Rechtsmittelrücknahme, wenn derjenige, der das Rechtsmittel eingelegt hat, sie in der für die Rechtsmitteleinlegung vorgeschriebenen Form erklärt und diese Erklärung bei dem mit der Sache befassten Gericht eingeht – in Klausurfällen regelmäßig der „iudex a quo“ (vgl. M-G/S § 302 Rn. 7 f.). Die Rücknahmeerklärung des Angeklagten erstreckt sich immer auch auf das Rechtsmittel des Verteidigers (vgl. M-G/S § 302 Rn. 4). Weitere Voraussetzung für die Wirksamkeit der bedingungsfeindlichen, unwiderruflichen und unanfechtbaren Rechtsmittelrücknahme ist, dass der jeweilige Verfahrensbeteiligte bei der Erklärung in seiner Willensentschließung nicht unzulässig beeinflusst wurde. Dies ist insbesondere bei solchen Rücknahmeerklärungen der Fall, zu denen der Angeklagte durch eine unrichtige richterliche Auskunft über die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels oder die Rechtsfolgen der Rücknahmeerklärung veranlasst wurde (vgl. M-G/S § 302 Rn. 9 f.).
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Dieser Zusammenhang wurde in einem aus BGH StV 2001, 556 entwickelten Klausurfall abgefragt, in dem zwischen den Verfahrensbeteiligten nach der Urteilsverkündung die Frage eines eventuellen Strafaussetzungswiderrufs in anderer Sache, in der die Bewährungszeit bereits abgelaufen war, erörtert wurde und sich im Hauptverhandlungsprotokoll der Hinweis des Vorsitzenden fand, dass ein solcher auch im Hinblick auf die soeben erfolgte Verurteilung „wegen des zwischenzeitlichen Ablaufs der Jahresfrist des § 56g Abs. 2 StGB aus rechtlichen Gründen nicht mehr möglich“ sei. Die spätere Rücknahme der vom Angeklagten eingelegten Revision war unwirksam, da sie auf einer unzutreffenden gerichtlichen Auskunft beruhte: Auf § 56g Abs. 2 StGB kam es hier gar nicht an, da diese Vorschrift nur dem Widerruf eines Straferlasses nach § 56g Abs. 1 StGB zeitliche Schranken setzt und bei einem Widerruf der Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB keine Anwendung findet. Auch wenn ein Widerruf der Strafaussetzung nach Ablauf der Bewährungszeit zeitlich nicht unbegrenzt möglich ist, konnte ein solcher hier entgegen der Auskunft des Vorsitzenden jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen werden, da immer die Besonderheiten des Einzelfalls – und insbesondere Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes – maßgeblich sind (vgl. Fischer § 56f Rn. 19a). Der Weg in die Begründetheitsprüfung war damit frei.
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3. Auch im Anschluss an einen wirksam erklärten Rechtsmittelverzicht, für den die obigen Ausführungen entsprechend gelten, kann ein Rechtsmittel nicht mehr zulässig eingelegt werden. Um ein solches Ergebnis in der Klausur zu vermeiden, werden in die betreffenden Aufgabentexte immer Umstände eingebaut sein, die den Verzicht aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründe nicht durchgreifen lassen.
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In einem Klausurfall ging es zunächst um die Frage, ob ein in der Sitzungsniederschrift protokollierter Rechtsmittelverzicht des Angeklagten auch tatsächlich erfolgtwar – dem Angeklagten und seinem Verteidiger war noch genau in Erinnerung, dass eine entsprechende Erklärung nicht abgegeben worden war. An der positiven Beweiskraft des § 274 S. 1 StPO nimmt ein Rechtsmittelverzicht nur teil, wenn er nach § 273 Abs. 3 S. 3 StPO beurkundet ist. Da es im Hauptverhandlungsprotokoll an der in dieser Vorschrift geforderten Genehmigung fehlte, war die Richtigkeit des Verzichtsvermerks im Freibeweis[8] zu klären (vgl. M-G/S § 274 Rn. 11). Auch wenn Richterin und Protokollführer insofern keine genaue Erinnerung mehr hatten, wusste jedoch die Staatsanwältin mit Blick auf ihren Terminsvermerk noch, dass nur sie selbst einen Rechtsmittelverzicht erklärt hatte. Der Weg in die Begründetheitsprüfung war damit frei.
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In einem anderen Klausurfall war der Rechtsmittelverzicht erfolgt – allerdings hatte der Angeklagte ihn nach dem Ende der Hauptverhandlung in einem Gespräch mit Richter und Staatsanwalt mündlich auf dem Gerichtsflur erklärt. Dies stand der Zulässigkeit der Revision mangels Einhaltung der Form des § 341 Abs. 1 StPO (vgl. M-G/S § 302 Rn. 18) von vornherein nicht entgegen.
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In einem weiteren Klausurfall ging es um § 302 Abs. 1 S. 2 StPO, wonach eine dem Urteil vorausgegangene Verständigung (§ 257c StPO) einen Verzicht ausschließt. Eine derartige Verständigung war in der Hauptverhandlung zwar erfolgt, nicht aber in der Sitzungsniederschrift protokolliert. Hier kam es auf die sich widersprechende, zweifach negative Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls an. Enthält dieses nämlich weder den nach § 273 Abs. 1 S. 2, Abs. 1a S. 1 StPO zwingend vorgeschriebenen Vermerk über das Stattfinden einer Verständigung noch den nach § 273 Abs. 1a S. 3 StPO ebenso zwingend vorgeschriebenen Vermerk über das Nichtstattfinden einer solchen Absprache, ist es in diesem Punkt widersprüchlich und verliert insoweit seine Beweiskraft (vgl. M-G/S § 273 Rn. 12c). Auch hier kam es somit auf das Freibeweisverfahren an, in dem die tatsächliche erfolgte Verständigung als Voraussetzung der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts geklärt werden konnte.
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Mit Blick auf den Willen des Gesetzgebers zu Transparenz und Dokumentation des Verständigungsgeschehens gilt § 302 Abs. 1 S. 2 StPO erst recht für eine heimliche, unter Umgehung des § 257c StPO erfolgte informelle Verständigung (vgl. M-G/S § 302 Rn. 26c). Zu einer solchen war es in einem Klausurfall ausweislich eines – freibeweislich zu berücksichtigenden (vgl. M-G/S § 302 Rn. 26c) – Anwaltsvermerks zwischen Richter und Verteidiger in einer Verhandlungspause gekommen. Die besondere Schutzbedürftigkeit des Angeklagten trat hier deutlich dadurch zu Tage, dass nicht nur die informelle Verständigung selbst, sondern auch das dabei vereinbarte und anschließend durch den Verteidiger erklärte Geständnis in seiner Abwesenheit erfolgte. Dass der Verteidiger am Ende der Hauptverhandlung nicht einfach auf ein Rechtsmittel verzichtete, sondern Revision einlegte und anschließend sogleich zurücknahm, stand deren Zulässigkeit nicht entgegen. § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ist nämlich über seinen Wortlaut hinaus auch auf die Zurücknahme anzuwenden, wenn Rechtsmitteleinlegung und zeitlich alsbald nachfolgende Rücknahme erkennbar nur dem Zweck dienen, diese Regelung zu umgehen (vgl. M-G/S § 302 Rn. 26e). Nicht anders zu erklären war aber der Hinweis des Richters, er fände „einen direkten Rechtsmittelverzicht schwierig“, der Verteidiger solle „doch einfach Revision einlegen und diese gleich wieder zurücknehmen“.
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In einem weiteren Klausurfall ergab sich die Unwirksamkeit des vom Rechtsanwalt nach der Urteilsverkündung erklärten Rechtsmittelverzichts aus § 302 Abs. 2 StPO, wonach der Verteidiger (auch) zum Verzicht auf Rechtsmittel einer ausdrücklichen Ermächtigung bedarf (vgl. M-G/S § 302 Rn. 30). Da dem bereits erstinstanzlich tätigen Verteidiger das Mandat hier aber nicht erst zur Durchführung des Rechtsmittelverfahrens erteilt worden war, hätte sich die Ermächtigung auf ein bestimmtes Rechtsmittel beziehen müssen (vgl. M-G/S § 302 Rn. 32). Hieran fehlte es der im Aufgabentext enthaltenen allgemeinen Strafprozessvollmacht, in der zudem ausdrücklich nur von der „Einlegung von Rechtsmitteln“ die Rede war.
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