Als die Polizei den J zwei Tage später als Täter ermittelt hat, lässt sich nicht mehr feststellen, wie hoch der BAK-Wert zum Zeitpunkt der Tat war. Aufgrund von Zeugenaussagen ist jedoch davon auszugehen, dass J jedenfalls Alkohol getrunken hatte. Hinsichtlich der Menge des konsumierten Alkohols reichen die Zeugenaussagen von „ganz wenig“ bis „total viel“.
In der Klausur würden Sie damit beginnen, die Strafbarkeit des J gem. § 315c zu prüfen. Enthält der Sachverhalt den Hinweis, dass die Staatsanwaltschaft jedenfalls von einer Alkoholisierung von 0,3 Promille ausgeht, können Sie die relative Fahruntüchtigkeit des J bejahen. Problematisch wird jedoch, ob J schuldhaft gehandelt hat, da insoweit auch eine Schuldunfähigkeit gem. § 20 in Betracht kommen kann. Da sich nicht mehr sicher feststellen lässt, wie der Alkoholisierungsgrad des J gewesen ist, muss nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ davon ausgegangen werden, dass J schuldunfähig gem. § 20 war.
Da bei den Straßenverkehrsdelikten, wie oben ausgeführt, die actio libera in causa nicht anwendbar ist, müssten Sie sich in der Klausur nun mit einem Vollrausch gem. § 323a beschäftigen. Voraussetzung dafür ist, dass J sich in einen Rausch versetzt hat. Bei erneuter Anwendung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes müsste man nunmehr davon ausgehen, dass J zum Zeitpunkt der Verursachung des Verkehrsunfalls nicht schuldunfähig und auch nicht vermindert schuldfähig war. Diese Annahme würde zu einem Freispruch des J führen.
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Nach dem Gesetzeswortlaut reicht es aus, dass der Täter wegen der rechtswidrigen Tat nicht bestraft werden kann, „ … weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist. “ Daraus ergibt sich nach überwiegender Auffassung, dass eine Rauschtat voraussetzt, dass jedenfalls der sichere Bereich des § 21 erreichtist, die Schuldfähigkeit des Täters also zweifelsfrei wenigstens erheblich vermindert war.[3] Insofern sind Zweifel dahingehend, ob der Täter schuldunfähig gem. § 20 oder nur vermindert schuldfähig gem. § 21 war, unerheblich. Nach h.A. hat jedoch ein Freispruch des Täters zu erfolgen, wenn sich noch nicht einmal sicher feststellen lässt, ob denn der sichere Bereich des § 21 erreicht ist. Kommt es auch in Betracht, dass der Täter voll schuldfähig war, so ist eine Bestrafung nach § 323a nicht möglich.[4]
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Nur teilweisewird in der Literatur vertreten, dass § 323a einen Auffangcharakterhabe und auch dann anwendbar sei, wenn noch nicht einmal festgestellt werden könne, ob der Zustand des § 21 erreicht sei. Erforderlich sei lediglich, dass überhaupt ein irgendwie gearteter Rauschzustand vorgelegen hat.[5]
Eine Wahlfeststellungist nach h.M. wegen fehlender rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit nicht möglich.[6]
Beispiel
Im obigen Fall würde dies bedeuten, dass J nach h.M. freizusprechen wäre. Lediglich die Literaturvertreter, die § 323a als Auffangtatbestand ansehen, kämen zu einer Bestrafung aus dieser Norm, da jedenfalls feststeht, dass J das ein oder andere Kölsch getrunken hat, mithin also aus biologischer Sicht ein Rauschzustand vorgelegen hat, auch wenn dieser nicht den Bereich des § 21 erreicht haben kann.
Wie bereits erwähnt, muss der Täter sich in diesen Zustand versetzt haben, indem er die berauschenden Mittel zu sich genommenhat.
2. Vorsatz oder Fahrlässigkeit
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Den Vollrausch muss der Täter entweder vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt haben. Vorsätzlichbedeutet, dass der Täter beim Konsumieren der Rauschmittel zumindest mit der Möglichkeit gerechnet hat, sich in einen vermindert schuldunfähigen Zustand zu versetzen und diese Möglichkeit billigend in Kauf genommen hat. Handelt der Täter hingegen fahrlässig, so hat er diese Möglichkeit bei Einnehmen der Rauschmittel nicht erkannt, hätte sie aber erkennen können.
2. Teil Straßenverkehrsdelikte› E. Exkurs: Vollrausch, § 323a› III. Objektive Strafbarkeitsbedingung: die Rauschtat
III. Objektive Strafbarkeitsbedingung: die Rauschtat
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In der Klausur muss nunmehr festgestellt werden, ob der Täter im Rausch eine Straftat begangen hat, deretwegen er aufgrund von § 20 nicht bestraft werden kann. Da Sie mit der Prüfung dieser Straftat angefangen haben, können Sie nach oben verweisen. Dabei muss es sich bei der Rauschtat um eine rechtswidrige Tathandeln. Diese rechtswidrige Tat muss alle gesetzlichen Anforderungen erfüllen. Hat der Täter z.B. im Rauschzustand einen Diebstahl begangen, so muss er die entsprechende rechtswidrige Zueignungsabsicht besessen haben. Als rechtswidrige Tat kommt auch ein Unterlassungsdelikt inkl. § 323c in Betracht.[7]
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Entsprechend der Formulierung des § 323a wird eine Rauschtat verneint, wenn der Täter zwar rechtswidrig, aber entschuldigtgehandelt hat. Dies ergibt sich zum einen aus der Systematik der Verbrechenslehre, da andernfalls der betrunkene Täter härter zu bestrafen wäre als der nüchterne Täter. Darüber hinaus ergibt es sich aber auch aus dem Wortlaut der Norm, die voraussetzt, dass die Bestrafung aus der Rauschtat wegen der Schuldunfähigkeit „infolge des Rausches“ ausscheidet. [8]
Beispiel
Der stocknüchterne A hält dem vollkommen betrunkenen B, der zu diesem Zeitpunkt einen BAK-Wert von 3,5 Promille aufweist, eine geladene Schusswaffe an den Kopf und fordert ihn auf, sich in sein Auto zu setzen, die Handbremse zu lösen und mit dem Fahrzeug den Berg hinunter zu rollen. In seiner Todesangst folgt B den Anweisungen des A. Aufgrund der Alkoholisierung kann er sein Fahrzeug jedoch nicht mehr kontrollieren, so dass er schon nach wenigen Metern mit einem am Straßenrand abgestellten Fahrzeug kollidiert.
Hier war B gem. § 20 schuldunfähig, so dass eine Strafbarkeit gem. § 315c Abs. 1 Nr. 1a schon aus diesem Grund nicht in Betracht kommt. Darüber hinaus war B aber auch entschuldigt gem. § 35, weil er sich im so genannten Nötigungsnotstand befand. (Eine Rechtfertigung gem. § 34 kommt nach h.M. nicht in Betracht, da die Tat nicht angemessen ist.) Wäre B nüchtern gewesen, so hätte er nicht wegen dieser Tat bestraft werden können. Würde man bei § 323a ausreichen lassen, dass die Rauschtat vorsätzlich und rechtswidrig begangen sein muss, so lägen die Voraussetzungen des § 323 vor. Dies würde jedoch zu schwer hinnehmbaren Wertungswidersprüchen führen.
Sofern die rechtswidrige Tat verjährtist, kann der Täter ebenfalls nicht mehr gem. § 323a bestraft werden.
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Streitig ist, ob der Täter des § 323a schon zum Zeitpunkt des Sich-Berauschens eine innere Beziehung zur später begangenen Tathaben muss.
Nach h.M. ist § 323a wie bereits ausgeführt ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Der Unwertgehalt der Tat liegt in dem Sich-Berauschen und dem damit einhergehenden Kontrollverlust. Aus diesem Grund soll die Rauschtat eine objektive Bedingungder Strafbarkeit sein, zu der der Täter keine innere Beziehungaufweisen muss.[9]
Eine in der Literatur vertretene Gegenauffassungmeint, dass allein das Sich-Berauschen zunächst ein sozial adäquates Verhalten sei und von daher nicht als strafwürdig angesehen werden könne. Um dem Schuldprinzip angemessen Rechnung tragen zu können, bedürfe es von daher einer inneren Beziehung jedenfalls dergestalt, dass der Täter im Hinblick auf die im Rausch begangene Tat beim Sich-Berauschen fahrlässiggehandelt hat. Von dieser Fahrlässigkeit sei allerdings regelmäßig auszugehen, da jedermann von der alkoholbedingten Enthemmung und der Gefahr der Begehung von Straftaten in diesem Zustand wisse.[10]
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