344
Die notwendige Auslegung eines VA richtet sich im Übrigen nach den für Willenserklärungen allgemein geltenden Auslegungsgrundsätzen. § 133 BGB ist entsprechend anwendbar[87]
. Maßgebend ist somit, wie der Empfänger nach den Umständen des Einzelfalls die Erklärung bei verständiger Würdigung zu verstehen hat[88]
. Der Wortlaut des „verfügenden Teils“ bildet den Ausgangspunkt. Ist er nicht eindeutig, so ist die Begründung der Verfügung heranzuziehen[89]. Insbes. belastende VAe müssen das von der Behörde Gewollte bestimmt, unzweideutig und vollständigausdrücken. Dem genügt eine für sofort vollstreckbar erklärte Räumungsverfügung nicht, wenn sie folgenden Satz enthält: „Sollten sie das Haus nicht räumen wollen, werden wir Ihnen beim Auszug behilflich sein“[90]. Die heute vielfach übliche Formel: „Es wäre schön, wenn …“ ist ebenfalls nicht eindeutig. Die Tatsache, dass eine klare Sprache heute vielfach als schroff empfunden wird, ist kein Grund für Behörden, sich ihrer nicht zu bedienen, weil Unklarheiten zulasten der Verwaltung gehen[91]. Jedoch entfällt bei einem Schreiben, welches höflich formuliert ist, nicht alleine aus diesem Grund die Eigenschaft als VA[92].
345
Maßgebend für die Inhaltsbestimmung eines VA ist der erklärte Wille, nicht der innere Wille des Bearbeiters[93]
. Eine Auslegung eines Schriftstücks gegen den erklärten und erkennbaren Willen scheidet aus. Freilich ist der wirkliche Wille zu erforschen[94]. Ist er vom Adressaten erkannt, so bestimmt dieser Wille den Inhalt der Erklärung[95]
. Dieses gilt nicht, wenn der VA auch Dritte betrifft. Haben Behörde und Antragsteller in bewusster Abkehr von ihren wahren Absichten etwas anderes im Antrag und in der Genehmigung angegeben als das wirklich Gewollte, so gilt nur das in der Genehmigung zum Ausdruck Gebrachte[96].
2. Die Allgemeinverfügung als Sonderfall des Verwaltungsakts, § 35 S. 2 VwVfG
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Fall 9:
Die niedersächsische Gemeinde Marienburg betreibt eine Wasserversorgungsanlage als öffentlich-rechtliche Anstalt für ihre Einwohner. Im Sommer 2018 kommt es als Folge einer längeren Schönwetterperiode zu einem Wassernotstand. Daraufhin erlässt der Bürgermeister einen Wassersparaufruf folgenden Inhalts: „Ab sofort ist bis auf Weiteres die Verwendung von Trinkwasser zum Gießen der Gärten und Sprengen der Rasenflächen zu unterlassen.“ Welche Rechtsnatur hat der Wassersparaufruf? Rn 356
347
Die Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 ist eine besondere Form des VA[97]. Bereits vor Erlass des VwVfG war anerkannt, dass eine dem Normalfall des VA grds. gleichzustellende Allgemeinverfügung vorlag, wenn der Adressatenkreis zwar nicht bestimmt, aber doch bestimmbarwar[98]. Dies hat der Gesetzgeber in der adressatenbezogenenAllgemeinverfügung nach § 35 S. 2, 1. Var. aufgriffen. Er ist beim Erlass des VwVfG aber darüber hinausgegangen und hat in § 35 S. 2, 2. und 3. Var. auch die sachbezogeneund die nutzungsbezogeneAllgemeinverfügung anerkannt. Bei diesen beiden Varianten ist der Adressatenkreis nicht mehr bestimmbar.
348
Trotz der grundsätzlichen Gleichstellung der Allgemeinverfügung mit dem „normalen“ VA nach § 35 S. 1 ist die Unterscheidung von erheblicher Bedeutung. Denn bei Allgemeinverfügungen hat der Gesetzgeber die allgemeinen Anforderungen an das Verfahren modifiziert. So kann nach Maßgabe des § 28 Abs. 2 Nr. 4 bei Allgemeinverfügungen von einer Anhörung abgesehen werden (dazu auch Rn 496). Darüber hinaus kann eine Allgemeinverfügung nach § 41 Abs. 3 S. 2 öffentlich bekannt gemacht werden (dazu auch Rn 447). Schließlich hat der Gesetzgeber bei öffentlich bekannt gemachten Allgemeinverfügungen in § 39 Abs. 2 Nr. 5 auch die Anforderungen an eine Begründung gelockert (dazu auch Rn 515 f)[99].
a) Die adressatenbezogene Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2, 1. Var. VwVfG)
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Allgemeinverfügung ist zunächst ein VA, der sich an einen „nach allgemeinen Merkmalen“ bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet. Bei Erlass eines VA dieser Art kann der Personenkreis unbestimmt sein. Durch § 35 S. 2, 1. Var. werden die Adressaten „nach allgemeinen Merkmalen“und deshalb nicht individuell, sondern „nur“ gattungsmäßig bestimmt, zB alle Hundehalter, alle Fahrradfahrer.
350
Bei der adressatenbezogenen Allgemeinverfügung kommt es damit nicht auf einen feststehenden Personenkreisan. Dies belegen die nachfolgenden anerkannten Beispiele.
Beispiele:
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Anordnung seuchenpolizeilicher Maßnahmen über Rundfunk[100]; |
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Bekanntgabe eines Smogalarms nach § 40 Abs. 1 S. 2 BImSchG[101]; |
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Anordnung des Bundesgesundheitsamts an pharmazeutische Unternehmen[102] ; |
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Verbot an die Fans eines bestimmten Fußballvereins, sich während eines bestimmten Zeitraums in einem bestimmten Stadtgebiet aufzuhalten[103]; |
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Schließung einer Grundschule[104]; |
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Einräumung von Sonderöffnungszeiten für Verkaufsstellen[105]. |
b) Die sachbezogene Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2, 2. Var. VwVfG)
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Eine Allgemeinverfügung ist nach dem Willen des Gesetzgebers ferner ein VA, der die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache betrifft. Damit richtet sich bei dieser Variante der Allgemeinverfügung die Regelung nicht an Personen, sondern ist auf Sachenorientiert. Deren rechtlichen Zustandbestimmt die Regelung. Es mag auf den ersten Blick scheinen, dass der sachbezogenen Allgemeinverfügung ein personales Element fehlt. Dem ist jedoch nicht so: Das personale Element kommt mittelbar zum Tragen dadurch, dass der Rechtszustand einer Sache Rechte und Pflichten einer natürlichen Person begründet. Den typischen Fall einer sachbezogenen Allgemeinverfügung bildet die Widmung[106] (s. näher Rn 1068 ff).
Beispiel:
Ein typisches Beispiel ist die Widmung eines Stücks Land zur Straße, s. § 2 Abs. 1 BFStrG. An die Widmung ist die Berechtigung von jedermann geknüpft, die Straße in bestimmtem Umfang zu benutzen, § 7 Abs. 1 BFStrG.
352
Als sachbezogene Allgemeinverfügung sind weiterhin anerkannt: jede Widmung und ihr actus contrarius, die Entwidmung (Einziehung) sowie Teilentwidmungen (Teileinziehungen); die Anordnung verkehrsberuhigter Bereiche[107]; der Planfeststellungsbeschluss[108]; ein Merkblatt für Straßenmusikanten[109]; Benennung von Straßen und Plätzen[110]; Änderung eines Straßennamens[111]; Widmung einer Rheinwiese als Festplatz[112]; Widmung eines Schulhofs zum Kirmesplatz[113]; die Schutzbereichsanordnung nach § 2 Schutzbereichsgesetz[114].
c) Die nutzungsbezogene Allgemeinverfügung (§ 35 S. 2, 3. Var. VwVfG)
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Eine Allgemeinverfügung ist nach dem Willen des Gesetzgebers schließlich ein VA, der die Benutzung einer Sache durch die Allgemeinheit betrifft. „Allgemeinheit“ ist ausschließlich personal zu verstehen; es handelt sich um die Benutzung einer Sache durch eine unbestimmte Vielzahl von Personen. Die dritte Variante der Allgemeinverfügung erfasst – um sie von der zweiten Variante mit Hilfe eines Beispiels abzugrenzen – nicht die grundsätzliche Benutzbarkeit der Sache (diese ist von der zweiten Variante erfasst), sondern die Rechte und Pflichten der Benutzer: Es geht um Benutzungsregeln. Diese gelten für alle potenziellen Benutzer; der Kreis der Benutzer ist unbegrenzt. Allerdings können teilweise auch beide Varianten erfüllt sein: So bildet etwa die Widmung einer Straße das zentrale Merkmal für die Entstehung des öffentlich-rechtlichen Status einer Straße. Zugleich werden Art und Umfang ihrer Benutzung durch die Widmung bestimmt (s.u. Rn 1070).
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