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Vor diesem Hintergrund haben sich etwa seit Beginn der 1980er Jahre drei verschiedene Formen privater Regelsysteme entwickelt: Kategorial lassen sich rein private Normensysteme, private Normen als Folge der Beteiligung Privater an hoheitlichen Aufgaben[414] und private Regeln zur Umsetzung supranationaler und völkerrechtlicher Verpflichtungen unterscheiden:
(1) Rein private Regelwerke
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Die legitimationstheoretisch größten Probleme werfen rein private Regelwerke auf. Einen Hinweis für deren grundsätzliche Zulässigkeit bietet bereits das Verfassungsrecht. Hier ist eine autonome Regelsetzung Privater in gewissem Umfang – etwa für Tarifverträge oder Vereinssatzungen – verfassungsrechtlich in den Art. 9 Abs. 1 u. 3, Art. 21 Abs. 1 GG verbürgt[415]. In anderen Bereichen beschreiben diese Normen, auch wenn sie nicht aus sich selbst heraus verbindlich sind, zumindest Konventionen, typisierte Standards, Verhaltenspraktiken oder Verhaltensempfehlungen.
Auf rein private Konventionen können sich Legislative, Exekutive und Judikative in methodisch vielfältiger Weise beziehen[416]: Der Gesetzgeber kann in die von ihm formulierten Gesetze statische oder dynamische Verweisungen auf private Regelwerke aufnehmen, Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe einfügen[417]. Die Exekutive kann private Normen im Wege der Selbstbindung anerkennen[418]. Die Rechtsprechung kann diese Begriffe dahin konkretisieren, dass eine Verkehrssitte, ein bei gewissenhafter Berufsausübung bzw. ein in einem gewissen Berufskreis zu erwartender Standard oder ein allgemeiner Stand der Technik zum Maßstab erklärt wird[419]. Wenn Aussagen von dieser Allgemeinheit nicht getroffen werden sollen, kann die Judikative derartige Normen einzelfallbezogen im Rahmen ihrer Beweiswürdigung als Beweisregeln, antizipierte Sachverständigengutachten oder als Dokumentation der redlichen Praxis berücksichtigen[420].
Mit den Attributen der Gewissenhaftigkeit oder der Redlichkeit wird zugleich ein Vorbehalt erklärt, diese Regeln im Einzelfall zu überprüfen. So können Verkehrssitten ihre normative Kraft verlieren, wenn sich bei einem Kreis weniger Personen mit gleichgerichteten Interessen aufgrund faktischer Machtverhältnisse Unsitten eingebürgert haben[421] oder umgekehrt der Erkenntnisfortschritt Abweichungen vom bisherigen System zur Entwicklung neuer Verfahren erfordert oder erlaubt[422]. Obgleich dann allgemein verbindliche Richtlinien völlig fehlen, muss sich der Einzelne also möglicherweise dazu entscheiden, von einer weithin geübten Verhaltensweise abzuweichen, und eine eigenständige Risikoabschätzung vornehmen[423].
(2) Private Normensysteme aufgrund von hoheitlicher Beauftragung
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Die Legitimationsprobleme privater Normensysteme sind a priori geringer, soweit private Gruppen zum Setzen einzelner Normen im weitesten Sinne beauftragt sind[424]. Der Gesetzgeber hat sich dieser Gruppen dann bewusst bedient und sie mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet. Hintergrund der verstärkten Einbeziehung Privater in die Wirtschaftsüberwachung ist ein weiterer wesentlicher Wandel im Wirtschaftsverwaltungsrecht[425]: An die Stelle des traditionell in Anspruch genommenen Wirtschaftsüberwachungsmonopols tritt partiell eine privatwirtschaftliche Selbstregulierung, die zu einer Deregulierung auf staatlicher Seite führt.
Dies hat auch Konsequenzen für den Umfang der richterlichen Kognitionskompetenz. Ansätze für eine Eingrenzung der richterlichen Kognitionskompetenzen reichen bis in die 1970er Jahre zur sog. Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurück[426]. Das Gericht wies dort der Legislative und Exekutive für mit Ungewissheit belastete Situationen eine kompetenzielle Vorrangstellung gegenüber der Rechtsprechung zu: In einer notwendigerweise mit Ungewissheit belasteten Situation liege es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage sei es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten[427]. Die Gerichte haben daher in solchen Fällen auch die Vorgaben privater Gruppen als verbindlich zu respektieren.
Beispiel:
Im (Konzern)Bilanzwesen wurde 1998 mit § 342 HGB die Grundlage für ein privates Rechnungslegungsgremium, den durch das Bundesministerium der Justiz (BMJ) anerkannten sog. Deutschen Standardisierungsrat (DSR) geschaffen[428]. Aufgabe dieses mit unabhängigen Fachleuten besetzten Gremiums ist es, die Rechnungslegungsstandards kontinuierlich an neue Erfordernisse anzupassen und Empfehlungen für eine ordnungsgemäße Konzernrechnungslegung zu entwickeln. Wenn die Empfehlungen vom BMJ bekannt gemacht werden, gilt bei einem nach den Regeln des DSR aufgestellten Konzernabschluss gem. § 342 Abs. 2 HGB die Vermutung, dass der Abschluss den Regeln ordnungsgemäßer Buchführung entspricht[429].
(3) Private Normensysteme zur Umsetzung supranationaler und völkerrechtlicher Verpflichtungen
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Bislang kaum diskutiert sind diese Legitimationsfragen und mögliche Beschränkungen der Kompetenzen nationaler Gesetzgeber bei der Bewertung von Normen europäischer und internationaler Normungsinstitute. Zu diesen Instituten gehören auf europäischer Ebene unter anderem CEN, CENELEC und ETSI[430]. Unter den internationalen Normungsorganisationen kommt vor allem der International Standard Organisation (ISO) und den von ihr erlassenen ISO-Normen sowie der International Electronical Commission (IEC) besondere Bedeutung zu. Die Europäischen Normungsinstitute erlassen sog. EN-Normen, die von jedem Mitglied in das eigene Normwerk übernommen werden müssen und entgegenstehenden nationalen Normen vorgehen[431].
Die internationalen Normungsorganisationen wurden von den Mitgliedern der WTO vor allem deshalb eingesetzt, um durch eine weitreichende internationale Harmonisierung von Standards – insbesondere technische – Handelshemmnisse zu beseitigen[432]. Soweit welthandelsrechtliche Übereinkommen auf diese Standards Bezug nehmen, werden diese Normen auch national verbindlich. Im Einzelfall handelt es sich damit um versteckt supranationale Normen[433].
Soweit mit solchen Normen internationale und supranationale Verpflichtungen umgesetzt werden, handelt es sich also nur der Form nach um private Regelwerke. Material werden Vorgaben umgesetzt, die im Rahmen eines mehrstufigen Prozesses mehr oder weniger starker gubernativer und damit hoheitlicher Rechtssetzung entstanden sind. Die Zulässigkeit gubernativer Rechtssetzung ist von Rechts wegen grundsätzlich anerkannt[434]. Die Privaten sind in die hoheitliche Aufgabenerfüllung eingebunden und ermöglichen es dem Hoheitsträger, sich auf eine näher definierte Ergebnisverantwortung zu beschränken[435]. Der Hoheitsträger sichert von ihm erwartete Qualitätsstandards durch entsprechende Akkreditierungsverfahren. Er beteiligt die maßgebenden Interessengruppen in einer Weise an den Verfahren, dass externe Effekte möglichst verhindert werden. Die Verfahren werden dazu so gestaltet, dass alle Interessengruppen ihre berechtigten Anliegen durchsetzen können und keine Gruppe in Kooperation mit einer anderen Gruppe berechtigte Anliegen unterdrücken kann. Daneben verstärkt der Hoheitsträger präventive und begleitende Aufsichtselemente[436].
c) Exkurs 2: Individuelle Spezifizierung ökonomischer und primärrechtlicher Verhaltensordnung
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Während private Regelwerke mit hoheitlichen Normen steuerungstechnisch noch die abstrakt-generelle Wirkung gemeinsam haben, gibt es gerade im Wirtschaftsprozess häufig Fälle, in denen abstrakt-generelle Regelungen aufgrund der Spezialisierung der Wirtschaftsteilnehmer nicht vorhanden oder nicht darstellbar sind[437]. So können etwa im Umwelt- und technischen Sicherheitsrecht materielle Entscheidungskriterien aufgrund von Wissens- und Bewertungsproblemen nur schwer vorgegeben werden. Das Recht hat daher in diesen Bereichen einerseits bekannte Risiken abzuwehren und vor unbekannten Gefahren Vorsorge zu treffen, und andererseits mit einem gewissen Grad an Unsicherheit umzugehen[438].
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