186
Das Beispiel der Abfallbeseitigung in einem Industrieunternehmen zeigt freilich nicht nur die Wirkrichtung ökonomischer und rechtlicher Steuerungsmechanismen, es impliziert auch die wesentlichen Gedanken, aus denen sich die theoretischen Grundlagen für die Konvergenz ökonomischer und rechtlicher Steuerungsmechanismen entwickeln lassen. Der Begriff der Konvergenz[394] strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungssysteme bezeichnet das Zusammenstreben oder die Annäherung dieser auf den ersten Blick artfremden und wesensverschiedenen Steuerungsmechanismen in ihren Zielen und Prozessen. Da das formale Instrumentarium zur Herstellung einer solchen Konvergenz mit dem Mechanismusdesign als Anwendung der Spieltheorie bereits dargestellt wurde[395], soll es im Folgenden darum gehen, die Grundbedingungen und konkreten Erscheinungsformen der materialen Annäherung strafrechtlicher und ökonomischer Steuerungsmechanismen näher zu beschreiben.
1. Konvergenz ökonomischer und primärrechtlicher Verhaltensordnung
187
Kernaussage der Institutionenökonomie ist, dass die ökonomischen Handlungsbedingungen grundlegend von der konkreten Ausgestaltung des sozialen Wirtschaftsraumes abhängen[396]. Bevor detailliert auf das Zusammenwirken ökonomischer und strafrechtlicher Mechanismen eingegangen wird, soll daher in einem ersten Schritt die Konvergenz ökonomischer und primärrechtlicher Verhaltensordnung aufgezeigt werden.
a) Abhängigkeit der ökonomischen Handlungsbedingungen von der Ausgestaltung des sozialen Wirtschaftsraumes
188
Der soziale Wirtschaftsraum beschreibt zunächst einen gesamtgesellschaftlichen Kontext und scheint damit über den Bereich einer rein rechtlichen Verhaltensordnung hinauszugehen. In modernen Gesellschaften sind die wesentlichen sozialen Bereiche allerdings rechtlich durchdrungen oder zumindest mit rechtlichen Regelwerken ausgestattet, die über hinreichende Rezeptionsstellen[397] verfügen, um die wesentlichen sozialen Faktizitäten erfassen zu können. Es liegt dabei im Wesen eines sozialen Wirtschaftsraums, dass innerhalb der Gemeinschaft divergierende Interessen zu einem Ausgleich gebracht werden müssen.
189
Der Hoheitsgewalt steht freilich ein Gestaltungsspielraum zu, wie sie diesen Interessenausgleich herstellt: Der Staat kann ein Monopol bei der Überwachung der Wirtschaft in Anspruch nehmen und einzelnen Rechtsgütern – wie etwa der Gesundheit und Sicherheit seiner Bürger – einen absoluten Vorrang einräumen. Dies hat zur Voraussetzung, dass die wesentlichen Prozesse des Interessenausgleichs innerhalb staatlicher Institutionen verlaufen[398]. Der Hoheitsgewalt steht es freilich gleichermaßen offen, diesen Interessenausgleich außerhalb parlamentarischer oder hoheitlicher Verfahren zu moderieren[399]. Da die Verbindlichkeit und Bedeutung solcher außerparlamentarischer Verfahren nicht ohne Weiteres einsichtig ist, soll insoweit nachfolgend in zwei Exkursen exemplarisch zunächst die Bedeutung privater Regelwerke und sodann die Möglichkeit einer individuellen Spezifizierung der Verhaltensordnung verdeutlicht werden.
b) Exkurs 1: Die Bedeutung privater Regelwerke
190
Beispielhaft für eine außerhalb von parlamentarischen Verfahren erfolgende Ausgestaltung des Wirtschaftsraums sind private Regelwerke. Angesprochen sind damit etwa überbetriebliche technische Normungen seitens des Deutschen Instituts für Normung (DIN), des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), des Verbands Deutscher Elektrotechniker (VDE), des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW) oder der Abwassertechnischen Vereinigung (ATV)[400].
191
Solche Normen sind trotz der zunehmenden formellen Verrechtlichung aller Lebenszusammenhänge praktisch immer bedeutsamer. In Bereichen wie etwa der Produktsicherheit haben Regelungen der Normungsinstitute faktisch ähnliche Wirkungen wie die Normen hoheitlicher Stellen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten sind diese Normen nicht mehr auf die Produktion von Gütern beschränkt. Zunehmend bestimmen sie auch die bei Dienstleistungen zu erbringende Qualität, wie zum Beispiel in der Medizin, im Bewachungsgewerbe, im Bestattungswesen oder im Prüfwesen[401] oder betreffen die Auslagerung der Strafrechtspflege auf Private[402]. Aktuell im Entstehen sind noch weitergehende Normen zur gesellschaftlichen Verantwortung (social responsibility) von Organisationen[403], in der die Verpflichtung von Organisationen auf soziale Ansprüche (stake holder) näher geregelt werden soll[404].
aa) Private Normen und Wandel der hoheitlichen Risikoverwaltung
192
Häufig sind solche Normen zugleich Abbild eines Wandels der hoheitlichen Sicherheits„philosophie“: Rein faktisch zieht sich der Staat aus der Wirtschaftsüberwachung immer weiter zurück, privatisiert einstmals von ihm wahrgenommene Aufgaben und setzt auf eine zunehmende Kooperation zwischen Hoheitsträgern und Privaten. Diese Veränderung beruht auf einem sich wandelnden Umgang der öffentlichen Hand mit Risiken. Auch Sicherheit, Gesundheit, Umwelt- und Verbraucherschutz werden von der öffentlichen Hand inzwischen unter Kosten-, Qualitäts-, Werbe- und Wettbewerbsgesichtspunkten betrachtet. Inhaltlich wandelt sich das Verwaltungsrecht damit vom klassischen Gefahrenabwehrrecht zu einem Risikoverwaltungsrecht[405]. Bereits auf Normsetzungsebene geht die Hoheitsgewalt im Sinne einer „Deregulierung“ der Wirtschaftsverwaltung dazu über, hoheitliche Normensysteme durch eine gezielte Selbstgesetzgebung seitens Privater zu ersetzen. Ein paralleler Prozess findet auf der Ebene der Normdurchsetzung statt, wo zunehmend private Prüf- und Überwachungssysteme oder Instrumente der Selbstkontrolle an die Stelle klassischer Eingriffsverwaltung treten[406].
193
Noch wenig geklärt ist, welche Auswirkung dieser Rückzug aus der klassischen, am konkreten Rechtsverhältnis ausgerichteten Eingriffsverwaltung und die damit verbundene Beschränkung auf eine Gewährleistungsverantwortung des Staates auf die rechtlichen Verantwortlichkeits- und Zurechnungsstrukturen hat[407]. Unklar ist etwa, ob hoheitliche Aufgaben insoweit vollständig delegiert werden können, ob und in welchem Umfang hoheitliche Überwachungspflichten bestehen bleiben oder ob sich die Pflichten auf eine ordnungsgemäße Koordination der verschiedenen Beteiligten beschränken. Da die vorliegende Arbeit aber auf die Ausarbeitung sachadäquater Zurechnungsstrukturen für ein modernes und an Individualhandlungen orientiertes Wirtschaftsstrafrecht beschränkt ist, soll diesem Phänomen hier nicht weiter nachgegangen werden.
bb) Legitimation der Verbindlichkeit privater Regelwerke
194
Die faktische Bedeutung privater Regelwerke wie die Privatisierung hoheitlicher Aufgaben begründen indessen nicht ohne Weiteres die besondere staatstheoretische Legitimation, wie sie hoheitlich gesetzten Normen inne wohnt. Die rechtliche Verbindlichkeit für Dritte kann daher angezweifelt werden[408]. Um dies angemessen zum Ausdruck zu bringen, wird in der Rechtswissenschaft zum Teil von einer „vorrechtlichen Ordnung“ und, soweit diese die Grundlage daran anknüpfender strafrechtlicher Zurechnung bildet, einer „vorrechtlichen Primärordnung“ gesprochen[409]. Das Recht greift nach dieser Vorstellung als nur nahezu geschlossenes System auf andere Systeme zurück und sichert sich damit in einem Umfeld steten Wandels seine Fähigkeit, eine allgemein geltende Verhaltensordnung aufrechtzuerhalten[410].
195
Eine solche normentheoretische und systemtheoretische Einordnung privater Regelungen allein bildet indessen keine hinreichende Basis, um diese Normen rechtstheoretisch exakt analysieren zu können. Dazu ist es vielmehr notwendig, die Konstitutionsbedingungen privater Normen genauer in den Blick zu nehmen[411]. Erst dann werden Aussagen darüber möglich, ob diese Normen wirklich als „vorrechtlich“ – und damit womöglich als weniger verbindlich – qualifiziert werden können. Welches die entscheidenden formalen Konstitutionsbedingungen dieser Normen sind, wird deutlich, wenn man Recht formal als eine Gesamtheit von Regeln, die äußeres Verhalten vorschreiben und gerichtsfähig sind, versteht[412]. Gerichtsfähig werden diese Regeln, wenn sie einen bestimmten Geltungsgrund aufweisen. Dazu müssen sie nach heutigem Verständnis rechtsstaatlich und demokratisch, das heißt in einem staatlich legitimierten Verfahren unter Berücksichtigung der betroffenen Kreise, zustande gekommen sein[413].
Читать дальше