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Tätigkeitsdelikte sind Tatbestände, die bereits die – zum Teil auch nur fahrlässige – Vornahme bestimmter Tätigkeiten unter Strafe stellen. Beispiele sind im Nebenstrafrecht etwa der Verstoß gegen Meldepflichten oder Vorschriften über die Lagerhaltung[370]. Der Tatbestand ist so gefasst, dass es für das Verhängen einer Sanktion nicht darauf ankommt, dass ein Erfolg eintritt[371]. Probleme bereitet freilich die Tatsache, dass die Übergänge zwischen einer relativ konkreten und einer relativ abstrakten Beschreibung der tatbestandsmäßigen Handlung fließend sind. Im letzten Fall liegt daher die Annahme eines Erfolgsdelikts und nicht eines Tätigkeitsdelikts nahe[372]; bei einer konkreten Handlungsbeschreibung, wie bei den Aussagedelikten, lassen sich die Tätigkeitsdelikte häufig den Gefährdungsdelikten zuordnen.
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Bei den Unternehmensdelikten werden der Versuch und die Vollendung der Rechtsgutsverletzung durch § 11 Abs. 1 Nr. 6 StGB grundsätzlich gleichgestellt[373]. Damit entfallen die für den Versuch vorgesehene fakultative Strafmilderung gem. § 23 Abs. 2 StGB und das Privileg eines strafbefreienden Rücktritts gem. § 24 StGB. Darüber hinaus sind die Besonderheiten des Unternehmensdelikts wenig untersucht[374]. Der Normbestand ist indessen kaum von praktischer Bedeutung und liegt hauptsächlich in Randbereichen des Kriminalstrafrechts[375].
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Für das Wirtschaftsstrafrecht ebenfalls von geringer praktischer Bedeutung sind derzeit noch die Organisationsdelikte[376]. So sanktionieren die §§ 127 ff. StGB bereits die Mitgliedschaft in einer per se sozialschädlichen Organisation wie etwa kriminellen oder terroristischen Vereinigungen. Wirtschaftsunternehmen erfüllen zwar grundsätzlich alle Erfordernisse, die an den Begriff einer Vereinigung im Sinne dieser Vorschrift gestellt werden. Jedoch bestimmt sich ein Unternehmen seinem Wesen nach durch seine ökonomische Orientierung und fällt damit aus dem Anwendungsbereich dieser Normen.
4. Subsidiarität strafrechtlicher Steuerung?
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Bereits im Rahmen der einführenden Ausführungen zu den strafrechtlichen Steuerungsmechanismen wurde auf die Konzeption des modernen Strafrechts als rechtsstaatliches und liberales Strafrecht hingewiesen. Aus der Verwurzelung des Strafrechts in der freiheitlich strukturierten Gesellschaft folgt nach ganz überwiegender Meinung, dass das Strafrecht nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf. Das Strafrecht sei die ultima ratio staatlichen Handelns und staatlicher Sozialpolitik. Es sei daher eine subsidiäre Handlungsoption und seinem Wesen nach fragmentarisch[377].
a) Abweichung gegenüber dem klassischen Postulat der Subsidiarität des Strafrechts: Perspektivenwechsel von der Legitimation individueller Strafe zur Gestaltung sozialer Institutionen
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Die vorstehenden Ausführungen, insbesondere zum Zweck der Strafe, zum Inhalt der Sanktion im Wirtschaftsstrafrecht und zum Normadressaten in seiner Funktion als Wirtschaftsteilnehmer, haben für das Wirtschaftsstrafrecht eine signifikante Abweichung gegenüber dieser klassischen Auffassung deutlich werden lassen. Der materiale Kern dieser Abweichung liegt in dem bereits zu Beginn der Abhandlung angedeuteten Perspektivenwechsel[378]. Diskutiert wird nicht die Legitimation der Bestrafung des Einzelnen, sondern die funktional angemessene und wirtschaftsverfassungsrechtlich legitimierbare normative Steuerung einer Sachmaterie und die dadurch mitbedingte Gestaltung wirtschaftlicher Institutionen durch den Einsatz von Strafe zum Zwecke der Sanktionierung einer Überschreitung rechtlich zugebilligter Handlungsspielräume[379].
Beispiel zu diesem Perspektivenwechsel:
Im Rahmen des klassischen Kernstrafrechts wird die Bedeutung der Tötungstatbestände im Schutz des menschlichen Lebens gesehen und der Todesbegriff in einer Weise definiert, der diesem Zweck am besten gerecht zu werden erscheint. In der Medizin (als einem Teilbereich der Wirtschaft) beschreibt gerade das strafrechtlich fixierte Datum des Todeszeitpunkts der Transplantationsmedizin oder der Forschung wichtige Grenzen ihrer Handlungsfreiräume[380].
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Damit unterscheidet sich der hier vertretene Ansatz aber auch von der herrschenden Meinung im Wirtschaftsstrafrecht: Diese verlangt zur Legitimation der Einschränkung des ultima ratio Grundsatzes einen positiven Saldo der durch eine strafrechtliche Norm beschränkten Freiheit mit den durch alternative Regelungssysteme verbundenen Freiheitseingriffen[381]. Eine solche Auffassung interpretiert die Verpflichtung des Staates auf die Gewährleistung und Schaffung individueller Freiheit insoweit fehl, als die Freiheit Dritter nicht mit individueller Freiheit saldiert werden kann. Hoheitliche Eingriffe in individuelle Freiheiten stehen grund- und menschenrechtlich vor einem strengen Vorbehalt der Erforderlichkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen. Die Schwere des Eingriffs fordert mehr als nur einen im konkreten Fall über die individuelle Freiheitsbeschränkung hinausgehenden Freiheitsgewinn Dritter. Erforderlich ist eine insgesamt am Postulat größtmöglicher individueller Freiheit ausgerichtete Gestaltung staatlicher Institutionen einschließlich des Wirtschaftsstrafrechts. Eine Norm ist daher dann gerechtfertigt, wenn der Einzelne – losgelöst von der konkreten Situation – in einer Rechtsordnung, in der die betreffende Norm gilt, insgesamt größere Freiheitsräume hat, als wenn diese Norm nicht gelten würde.
b) Mögliche Einwände und deren Tragweite: Vorrang der Prävention vor der Reaktion; Verweis auf die Selbstverantwortlichkeit der Wirtschaftsteilnehmer
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Dieser Sicht könnte man auf den ersten Blick entgegen halten, die Instrumentalisierung des Strafrechts zum Steuerungsinstrument verkenne die Subsidiarität der strafrechtlichen Reaktion gegenüber rein präventiven Maßnahmen[382]. Der Vorrang der Prävention vor der Reaktion ist sicherlich bedeutsam. Wer sich einbildet, er könne Normeinhaltung vor allem durch Strafrecht erreichen, der läuft außerdem Gefahr, die Möglichkeiten des Strafrechts zu überschätzen[383].
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Mit der Gegenüberstellung von Reaktion und Prävention werden die Leistung und die Funktion des Wirtschaftsstrafrechts allerdings nicht hinreichend beschrieben. Im Wirtschaftsstrafrecht werden gerade mit dem Normerlass mögliche externe Effekte in die Kostenstruktur wirtschaftlichen Handelns internalisiert, der rechtlich zulässige Handlungsrahmen begrenzt und wirtschaftliche Prozesse in einer Weise determiniert, wie dies durch andere, nicht-sanktionierende Steuerungsmechanismen kaum möglich ist[384]. Gerade das Wirtschaftsstrafrecht erhält einen Großteil seiner Legitimation daher aus seiner besonderen generalpräventiven Wirkung.
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Strafrechtliche und außerstrafrechtliche Steuerungssysteme dürfen dabei nicht streng alternativ angesehen werden, sondern müssen als funktionale Einheit betrachtet werden[385]. Es geht also weder um einen Vorrang der Prävention vor der Reaktion noch um ein Ausschlussverhältnis im Sinne eines Entweder-Oder. Gefordert ist eine sinnvolle Ergänzung der auf Ausgleich, Beratung, Kooperation, Kontrolle und Sanktion für den Fall der Zuwiderhandlung ausgerichteten rechtlichen Regelungen zu einem Gesamtsystem, das die divergierenden individuellen Freiheitsansprüche zu einem angemessenen Ausgleich bringt.
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Der Versuch, die Subsidiarität des Strafrechts mit einer größeren Selbstverantwortung der Wirtschaftsteilnehmer begründen zu wollen, trägt ebenfalls nicht sehr viel weiter[386]. Dies gilt erst recht für den Einwand, soweit das Strafrecht einseitig bestimmte Interessen eines Vertragspartners schütze, widerspreche es der üblichen vertraglichen Risikoverteilung[387]. Die Selbstverantwortung des Einzelnen muss von Beginn an in einem System gesellschaftlicher konkretisierter Handlungsmöglichkeiten gesehen und in dieses integriert werden. Das Maß der notwendigen Selbstverantwortung hängt – wie gerade spieltheoretische Ausführungen zeigen[388] – vielmehr seinerseits ganz entschieden von der gesellschaftlich vorgegebenen Verteilungsordnung von Informations- und Transaktionskosten ab. Sanktionen – insoweit verstanden als kollektiv ausgeübte Kontrolle ex post – können die Risikoverteilung derart verändern, dass listiges Verhalten unattraktiv und (teurere) individuelle Kontrolle weitgehend überflüssig wird. Umgekehrt kann das Fehlen einer Sanktion individuelle Kontrollmechanismen erforderlich machen, Transaktionen in einer Weise verteuern, dass dies aus der Sicht aller Wirtschaftsteilnehmer unerwünscht ist.
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