237
Die Handelsbilanz der Gesellschaft am Jahresende stellt sich wie folgt dar:
Aktiva |
|
Passiva |
|
Grundstück |
(100) |
(SK |
(100)) |
Maschinen |
(70) |
Gewinn |
(30) |
Forderungen |
(160) |
Verbindlichkeiten |
(200) |
238
Wird die Gesellschaft liquidiert, so kann sich in der Liquidation z.B. herausstellen, dass das Grundstück schwer verkäuflich ist. Erst recht gilt das für die eigens für die Gesellschaft angefertigte Produktionsmaschine, wenn und weil sie die ureigene unternehmerische Idee der Gesellschaft repräsentiert und für andere Unternehmer nicht verwertbar ist. Auch kann ein Forderungsausfall durch liquidationsbedingte Beitreibungsschwierigkeitenentstehen (Die Schuldner sind nicht mehr bereit, die Forderungen der Gesellschaft zu erfüllen, machen grundlos Fehler und Mängel des Isomaterials geltend und/oder lassen es auf eine Klage ankommen).
239
Die Überschuldungsbilanz sieht also möglicherweise wie folgt aus:
Aktiva |
|
Passiva |
|
Grundstück |
(70) |
(SK |
(100)) |
Maschinen |
(5) |
|
|
Forderungen |
(120) |
Verbindlichkeiten |
(200) |
nicht durch Eigenkapital |
|
|
|
gedeckter Fehlbetrag |
(5) |
|
|
240
Die Gesellschaft im Beispiel ist dementsprechend rechnerisch überschuldet. Würde man der Gesellschaft dagegen ein Jahr Zeit geben, um Grundstück und Maschine zu verkaufen, dann sähe die Bilanz möglicherweise wieder anders aus. Es kann die eine oder andere Forderung durch Klage gegen die Gläubiger durchgesetzt werden, es findet sich jemand, der die Maschine kaufen will usw.
241
Liquidationsbilanz also etwa:
Aktiva |
|
Passiva |
|
Grundstück |
(70) |
(SK |
(100)) |
Maschinen |
(35) |
Verbindlichkeiten |
(200) |
Forderungen |
(140) |
|
|
Die Gesellschaft wäre unter dieser Prämisse nicht überschuldet.
[Bild vergrößern]
242
Man sieht: Legt man unterschiedliche Prämissen der Bewertung zugrunde, so ergeben sich unterschiedliche Werte. Etwas vergröbernd wird man sagen können, dass eine Bewertung zu Fortführungswerten in der Handelsbilanz letztlich zu höheren Werten führen wird als die Bewertung zu Liquidationswerten, diese wiederum zu höheren Werten als die Zerschlagungswerte. Das sind die ersten Anhaltspunkte, um die oben wiedergegebene Abbildung verstehen zu können. Jedenfalls in den Jahren 3 und 4 kann man die Überschuldungsbilanz ungefähr mit einer Bewertung zu Zerschlagungswerten gleichsetzen, die Handelsbilanz in etwa mit der Bewertung unter der Fortführungsprämisse. Warum die Kurven sich in den Jahren 1 und 2 anders verhalten, wird später ( Rn. 254) erläutert.
Teil 3 Gläubigerschutz› § 6 Bilanz- und Insolvenzrecht› IV. Welches sind die Zwecke der Handelsbilanz
IV. Welches sind die Zwecke der Handelsbilanz
1. Ausgangspunkt
a) Überblick über die Lage und weitere Zwecke
243
Im Ausgangspunkt soll ein Überblick über die finanzielle Lage des Kaufmanns im Interesse der Konkursvermeidunggeschaffen werden.[4] Der Zweck ist also in erster Linie Gläubigerschutz.
Weiterhin gilt für Gesellschaften: Die Rechnungslegung soll Rechenschaftsablegung gegenüber den Gesellschaftern sein sowie die Ermittlung des verteilungsfähigen Ergebnisses(des Gewinns) ermöglichen. Dabei ist aber problematisch, inwieweit das eine Veränderung der Perspektive erforderlich macht:
Beispiel:
Die Gesellschaft dürfte handelsbilanziell 100 T€ als Gewinn verteilen, dessen tatsächlicher Entzug würde aber ihre Liquidität ernsthaft gefährden – muss das Bilanzrecht nun deshalb einen anderen Betrag als Gewinn ausweisen? Ist also nurder Gläubigerschutz Zweck des Handelsbilanzrechtes?
244
Die h.M. gibt leider eine „weiche“ Antwort: Nein, die Rechnungslegung verfolge auch weitere Zwecke, z.B. Gesellschafterschutz, Ermittlung des ausschüttungsfähigen Gewinns, d.h. eines Gewinns, der entnommen werden kann, ohne in die Substanz des Unternehmens einzugreifen.[5]
245
Zwei Zwecke werden vorwiegend vertreten: Das sind die Dokumentation der Vermögenslage des Unternehmens und der Zwang zur Selbstkontrolle respektive Selbstinformation des Kaufmann über die Schuldendeckungsfähigkeit seines Unternehmens. Beide Zwecke (oder Funktionen) bilden den Kernbereich des handelsrechtlichen Jahresabschlusses.
b) Dokumentationsfunktion
246
Die Dokumentationsfunktion der Rechnungslegung ist auf den Schutz der Gläubiger in der Insolvenz des Kaufmannes bezogen. Sie soll verhindern, dass Gläubiger durch Verheimlichenoder Beiseiteschaffen von Vermögensgegenständenoder Erdichten nicht existenter Schulden geschädigt werden, und sie soll den Verbleib des Vermögens für die Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar machen. Historisch geht diese Funktion der Rechnungslegung auf den französischen Gesetzgeber zurück. Dieser hatte mit der Ordonnance sur le Commerce und später mit dem Code de Commerce die Gläubiger vor vermögenslosen und betrügerischen Konkursenschützen wollen. Die Insolvenzbezogenheit der Rechnungslegung ist auch heute noch daran zu erkennen, dass die Strafbarkeit einer Verletzung der Rechnungslegungspflichten nach den §§ 283 ff. StGB allein im Insolvenzfall möglich ist. Daneben sichert die Rechnungslegung die Gläubiger des Kaufmanns im Prozess durch die Vorlegungspflichten der §§ 258 ff. HGB.
c) Pflicht zur Selbstinformation?
247
Welche Bedeutung die Verpflichtung des Kaufmannes zur Selbstinformation als zweite Funktion im Einzelnen besitzt, ist dagegen nicht so leicht am Gesetz festzumachen. Durch die Dokumentation der Geschäftstätigkeit im Jahresabschluss und in den Handelsbüchern wird der Kaufmann zwar tatsächlich dazu gezwungen, sich selbst einen Einblick in seine Vermögens- und Ertragslagezu verschaffen. Da der Jahresabschluss über lange Jahre nicht generell zu veröffentlichen war, kann man schnell dem Missverständnis unterliegen, dass die handelsrechtliche Rechnungslegungspflicht dem Kaufmann eine Grundlage für seine unternehmerischen Entscheidungen geben soll und sich daher zumindest auch an den betriebswirtschaftlichen Informationsbedürfnissen des Unternehmers auszurichten hat.
248
Ein solches Verständnis der Pflicht zur Selbstinformation, obwohl heute ganz h.M., entspricht jedoch nicht der gesetzlichen Absicht. Die Pflicht zur Selbstinformation kann vielmehr nur eine Pflicht zur Selbstkontrolle im Interesse der Gläubiger und (nur) Ausdruck eines präventiven Gläubigerschutzes sein. Denn es ist nicht erkennbar, weshalb der Kaufmann eines gesetzlichen (!) Schutzes vor sich selbst bedarf. Dagegen bedürfen die Gläubiger dieses Schutzes aus den auch heute noch zutreffenden Erwägungen, die zur Einführung der Buchführungspflicht im 18. und 19. Jahrhundert führten.
2. Aussagekraft der Handelsbilanz?
249
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