Beispiel 1
Z betreibt einen Zeitschriften- und Tabakladen. Berufliche und persönliche Sorgen haben ihn zum Alkoholiker werden lassen. Als die zuständige Behörde hiervon Kenntnis erlangt, untersagt sie dem Z jedwede gewerbliche Tätigkeit wegen Unzuverlässigkeit. – Die auf § 35 Abs. 1 GewO gestützte Gewerbeuntersagung gegenüber Z betrifft die Ausübung gewerblicher Tätigkeit (das „Ob“ gewerblicher Tätigkeit). Die Gewerbeordnung ist in erster Linie Gewerbezulassungsrecht (vgl. auch § 1 GewO, der den Grundsatz der Gewerbefreiheit einfach-gesetzlich normiert) und enthält insoweit abschließende Regelungen. Ein Rückgriff auf allgemeinere Bestimmungen (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) ist daher ausgeschlossen.
Beispiel 2
Die zuständige Bauaufsichtsbehörde erfährt, dass Familie B ihren Bungalow um ein Obergeschoss aufgestockt hat, ohne zuvor eine Baugenehmigung zu beantragen. Das Bauvorhaben ist nach geltendem Baurecht unzulässig. Die Behörde erlässt daher eine Abrissverfügung. – Durch die Bauordnung NRW 2018 werden den Baubehörden Aufgaben zur Abwehr baurechtlicher Gefahren übertragen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben steht den Baubehörden u.a. die bauordnungsrechtliche Generalklausel des § 58 Abs. 2 S. 2 BauO NRW 2018 zur Verfügung (s. dazu Skript „Baurecht NRW“ Rn. 447 f.). Auf der Grundlage dieser Bestimmung kann die zuständige Bauaufsichtsbehörde die zur Abwehr baurechtlicher Gefahren notwendigen Maßnahmen ergreifen, hier somit eine Abrissverfügung wegen des Schwarzbaus erlassen. Ein Rückgriff auf eine allgemeinere Befugnisnorm (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) ist ausgeschlossen.
JURIQ-Klausurtipp
Im Zweifel können Sie davon ausgehen, dass eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage einen abschließenden Charakter hat, weil der Gesetzgeber mit dem Erlass der spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage einen spezifischen Zweck verfolgt und insoweit einen Rückgriff auf allgemeinere Regelungen ausschließen will.[18]
69
Ergibt Ihre Prüfung, dass eine abschließende spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage zwar existiert, aber in Ihrer Fallbearbeitung nicht eingreift, ist ein Rückgriff auf eine Ermächtigungsgrundlage des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausgeschlossen.[19]
Beispiel 1
Anders als in Beispiel 1 oben ( Rn. 68) ist Z nicht alkoholkrank. Dennoch wird ihm die gewerbliche Tätigkeit wegen Unzuverlässigkeit untersagt. – Da Z nicht alkoholkrank ist, ist er gewerberechtlich zuverlässig. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 Abs. 1 GewO liegen daher nicht vor. Die Behörde kann in diesem Fall nicht auf allgemeinere Regelungen (v.a. die ordnungsbehördliche Generalklausel) zurückgreifen, um auf dieser Grundlage die Gewerbeuntersagung gleichwohl zu verfügen.
Beispiel 2
Anders als in Beispiel 2 oben ( Rn. 68) ist das Bauvorhaben der Familie B genehmigungsfähig. – Eine auf § 58 Abs. 2 S. 2 BauO NRW 2018 gestützte Abrissverfügung ist in diesem Falle rechtswidrig. Die Behörde kann auch hier nicht z.B. auf die ordnungsbehördliche Generalklausel zurückgreifen, um auf dieser Grundlage die Abrissverfügung gleichwohl zu erlassen.
70
Ergibt Ihre Prüfung, dass eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlageexistiert, diese aber nicht abschließend ist, sondern in bestimmten Punkten(z.B. hinsichtlich des Adressaten oder der auszusprechenden Rechtsfolge) keinen abschließenden Charakterhat, können diese Lücken durch Rückgriff auf die einschlägigen Bestimmungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts geschlossenwerden.
Beispiel 1
Wie oben ( Rn. 68) gesehen, enthält die Gewerbeordnung grundsätzlich nur Gewerbezulassungsrecht. Soweit lediglich die Art und Weise der Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit betroffen ist, enthält die Gewerbeordnung daher keine abschließende Regelung mit der Folge, dass ein Rückgriff v.a. auf die ordnungsbehördliche Generalklausel möglich ist.
Beispiel 2
Die BauO NRW 2018 enthält mit §§ 53 ff. spezielle Regelungen in Bezug auf den Adressaten einer Bauordnungsverfügung „bei der Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und der Beseitigung von Anlagen“ (vgl. § 52 BauO NRW 2018). Soweit diese Bestimmungen nicht einschlägig sind (insbesondere nach Abschluss der genannten Tätigkeiten), ist auf die allgemeinen Regelungen (§§ 17 ff. OBG) zurückzugreifen.
71
Ein wichtiges und vor allem auch prüfungsrelevantes Beispiel bildet in diesem Zusammenhang das Versammlungsrecht, dessen Verhältnis zum allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht im folgenden Exkurs näher dargestellt werden soll.
b) Exkurs: Verhältnis zwischen dem Versammlungsrecht und dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht
72
Nutzen Sie die Gelegenheit zu einer Wiederholung der Versammlungsfreiheit im Skript „Grundrechte“! Die verfassungsrechtlichen Aspekte werden im Exkurs als bekannt vorausgesetzt.
Auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a.F. erließ der Bund im Jahre 1953 das Versammlungsgesetz(VersG).[20] Seit der Föderalismusreform I im Jahre 2006 besitzen die Länder die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht. Das Versammlungsgesetz des Bundes gilt jedoch gemäß Art. 125a Abs. 1 GG fort, bis es durch Landesrecht ersetzt wurde.[21] Das Versammlungsgesetz ist konzipiert als „ein in sich geschlossenes und abschließendes Regelwerk, mit dem sichergestellt wird, dass die zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei der Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges notwendigen Maßnahmen getroffen werden können“.[22] Aus dem abschließenden Charakter des Versammlungsgesetzes folgt die sog. Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts, d.h. versammlungsbezogene Eingriffe können nur auf Ermächtigungsgrundlagen des Versammlungsgesetzes gestützt werden (s. Skript „Grundrechte“ Rn. 466). Die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts wird konkret bestimmt durch den Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzesund innerhalb dieses Anwendungsbereichs durch den Regelungsbereich des Versammlungsgesetzes.[23]
Hinweis
Beachten Sie also, dass die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts nur relativ gilt.
aa) Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes
73
Das Versammlungsgesetz regelt Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG(s. Skript „Grundrechte“ Rn. 445 ff.).
Beispiel
Zwei Kinder sind im Eis auf einem Weiher eingebrochen. Sofort bleiben zahlreiche Passanten am Uferrand stehen und beobachten das Geschehen. Als die Polizei eintrifft, fordert sie die Passanten zum Verlassen des Unglücksorts auf. – Das Zusammenkommen der Passanten am Uferrand stellt zwar eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen dar; die Zusammenkunft erfolgt aber rein zufällig und ist nicht auf die gemeinschaftliche, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung gerichtet. Bei der Zusammenkunft der Passanten handelt es sich daher nicht um eine Versammlung i.S.d. Art. 8 GG, sondern um eine bloße Ansammlung mit der Folge, dass das Versammlungsgesetz nicht anwendbar ist und damit keine Sperrwirkung gegenüber anderen gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften entfaltet.
74
Das Versammlungsgesetz enthält Regelungen, die den Zweck verfolgen, dass Versammlungen i.S.d. Art. 8 GG ordnungsgemäß und störungsfrei durchzuführen. Daher soll das Versammlungsgesetz versammlungsspezifische Gefahren abwehren.
Beispiel
Wegen eines Hauseinsturzes ändert die zuständige Behörde kurzfristig die geplante Route für einen Protestmarsch, weil die Straße, in der das Haus eingestürzt ist, unpassierbar ist. – Mit der Änderung der geplanten Route für den Protestmarsch will die zuständige Behörde mögliche Gefahren z.B. für die körperliche Unversehrtheit der Demonstrationsteilnehmer verhindern. Dabei handelt es sich nicht um die Abwehr versammlungsspezifischer Gefahren, so dass das Versammlungsgesetz nicht anwendbar ist und damit keine Sperrwirkung gegenüber anderen gefahrenabwehrrechtlichen Vorschriften entfaltet.
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