JURIQ-Klausurtipp
In der Fallbearbeitung hat die Geltung des Vorbehalts des Gesetzes für Sie vor allem zur Folge, dass Sie eine fehlende Befugnisnorm oder eine Befugnisnorm, die eine Maßnahme der Polizei bzw. der Ordnungsverwaltung nicht vollständig abdeckt, nicht durch Analogieschlüsse oder Rechtsfortbildung kompensieren dürfen. In diesen Fällen ist allein der Gesetzgeber aufgerufen, ggf. aktiv zu werden und den Befugniskatalog zu erweitern.[4] In Ihrer Fallbearbeitung wäre eine polizei- bzw. ordnungsrechtliche Gefahrenabwehrverfügung im Fall einer fehlenden oder unzureichenden Ermächtigungsgrundlage bereits aus diesem Grunde rechtswidrig. Da Sie in der Regel zur Erstellung eines umfassenden Gutachtens aufgefordert sind, prüfen Sie die Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung nach einem solchen Zwischenergebnis grundsätzlich wie gewohnt im Hauptgutachten weiter.
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Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht gilt der Vorbehalt des Gesetzesallerdings nicht ausnahmslos. Jenseits polizei- bzw. ordnungsrechtlicher Gefahrenabwehrverfügungen haben die Aufgabennormen durchaus Bedeutung bei Maßnahmen der Polizei und der Ordnungsverwaltung, die nicht in die Rechte der Bürger, insbesondere nicht in deren Grundrechte, eingreifen. Bei diesen Maßnahmen, die keinen Eingriffscharakter haben, handelt es sich um Realakte. Im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht werden Realakte namentlich im Vorfeld von Eingriffsmaßnahmenrelevant.[5]
Beispiele
Streifendienst der Polizei; Erteilung von Auskünften; allgemeine Warnungen; Belehrungen; Ermahnungen; Gefährderansprache; Gefährderanschreiben.
JURIQ-Klausurtipp
Wenn Sie eine Maßnahme der Polizei bzw. der Ordnungsverwaltung ausnahmsweise nicht auf eine Befugnis-, sondern auf eine Aufgabennorm stützen, stellen Sie unter dem Punkt „Ermächtigungsgrundlage“ zunächst fest, dass die betreffende Maßnahme keinen Eingriffscharakter hat, der Vorbehalt des Gesetzes daher nicht gilt und damit eine Befugnisnorm nicht einschlägig ist. Sodann benennen Sie die einschlägige Aufgabennorm, aus der sich die sachliche Zuständigkeit der Polizei bzw. der Ordnungsbehörde für die Wahrnehmung der betreffenden Aufgabe ergibt.
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Einen Sonderfallstellen in diesem Zusammenhang behördliche Warnungender Öffentlichkeit vor Gefahren dar. Eine Aufgabennorm verleiht die Befugnis, die Öffentlichkeit vor Gefahren zu warnen, vorausgesetzt, dass die Warnung vor Gefahren keine Rechte Dritter beeinträchtigt. Beeinträchtigt die Warnung dagegen unmittelbar oder mittelbar Rechte Dritter, kann die Warnung nicht auf eine Aufgabennorm gestützt werden.
Beispiel 1
Die zuständige Behörde informiert Eltern schulpflichtiger Kindern in einer Broschüre über gesunde Ernährung und macht in allgemeiner Form darauf aufmerksam, dass Kindernahrung oftmals besonders viel Zucker enthält, daher ungesund ist und besser gemieden werden sollte. – Hier klärt die zuständige Behörde die Eltern lediglich grundsätzlich über eine gesunde Ernährung von Schulkindern auf. Hierin liegt kein Eingriff in ein Recht Dritter, so dass diese Tätigkeit der Behörde von einer Aufgabennorm (im Zweifel § 1 Abs. 1 OBG) gedeckt ist.
Beispiel 2
Anders als in Beispiel 1 warnt die zuständige Behörde in ihrer Broschüre ausdrücklich vor dem Verzehr bestimmter Kindernahrung der Firma xy. Die Firma xy erleidet aufgrund der Warnung nicht nur bei den von der Warnung erfassten, sondern auch bei anderen Produkten erhebliche Umsatzeinbußen. – Hier greift die Behörde mit der Warnung in das Grundrecht der Firma aus Art. 12 Abs. 1 GG ein. Die Warnung kann daher nicht auf eine Aufgabennorm gestützt werden, sondern muss von einer Befugnisnorm (im Zweifel § 14 Abs. 1 OBG) gedeckt sein.
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Eine Besonderheitsoll für Warnungen durch die Bundesregierunggelten.
Beispiel
Die Bundesregierung warnt vor dem Genuss von mit Glykol versetztem Wein[6] oder vor Sekten.[7]
In diesen Fällen fehlt eigentlich eine ausdrückliche Aufgabennorm (wie es sie z.B. mit § 1 Abs. 1 OBG bzw. § 1 Abs. 1 S. 1 PolG NRW für die Ordnungsverwaltung bzw. die Polizei in Nordrhein-Westfalen gibt). Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht eine Aufgabe der Bundesregierung in Bezug auf entsprechende Warnungen bejaht, indem es angenommen hat, dass eine solche Aufgabe ungeschrieben im Grundgesetz enthalten sei. Diese Aufgabe der Bundesregierungsoll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts darin bestehen, dass die Bundesregierung die Entwicklungen im Staat und in der Gesellschaft zu beobachten und darüber die Bevölkerung zur Abwehr schwerwiegender Gefahren zu informierenhat. Die so hergeleitete Aufgabe soll zugleichdas Recht der Bundesregierungbegründen, die Öffentlichkeit zur Gefahrenabwehr zu unterrichten und, wenn dies nicht vermeidbar ist, dabei in Rechte Dritter einzugreifen. Diese Auffassung ist im Schrifttum allerdings auf Widerspruch gestoßen, weil das Bundesverfassungsgericht unzulässigerweise von einer Aufgabenzuweisung auf eine Befugnis zum Eingriff in Rechte des Bürgers schließe und das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Maßnahme verkenne.[8]
3. Teil Gefahrenabwehrverfügungen nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht› B. Ermächtigungsgrundlage für die Gefahrenabwehrverfügung› II. Mögliche Ermächtigungsgrundlagen
II. Mögliche Ermächtigungsgrundlagen
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Da eine Gefahrenabwehrverfügung, die in die Rechte des Bürgers eingreift, wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes einer Ermächtigungsgrundlage bedarf, arbeiten Sie – entsprechend dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali – die Ermächtigungsgrundlage, auf die die Gefahrenabwehrverfügung gestützt sein kann, heraus. Dabei gehen Sie in drei Schritten vor:
1. Spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen
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Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage einschlägig ist. Spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen kommen in erster Linie bei ordnungsbehördlichen Gefahrenabwehrverfügungen in Betracht. Zu den prüfungsrelevanten spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen des besonderen Ordnungsrechts gehören z.B. § 58 Abs. 2 S. 2 BauO NRW 2018, §§ 17, 20, 24–29 BImSchG,[9] §§ 5, 12 Abs. 3, 21 Abs. 1 GastG,[10] §§ 15 Abs. 2, 35 GewO,[11] §§ 16 Abs. 3, Abs. 4, 24 HandwO,[12] § 22 StrWG NRW,[13] § 25 StVG,[14] §§ 17, 31a StVZO,[15] §§ 5, 15 VersG.[16]
a) Verhältnis zwischen spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen und Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts
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Die spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen genießen grundsätzlich Anwendungsvorrangvor den Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts. Ob und ggf. inwieweitdas Spezialgesetz die sondergesetzlich geregelte Materie abschließendregelt und damit einen Rückgriff auf die Vorschriften des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ausschließt, müssen Sie in jedem Einzelfall durch Auslegung des Spezialgesetzes und seiner Ermächtigungsgrundlageprüfen. Als Grundregel sieht das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht vor, dass Bundes- oder Landesgesetze, in denen die Gefahrenabwehr spezialgesetzlich geregelt ist, den allgemeinen Gefahrenabwehrgesetzen vorgehen und dass die allgemeinen Gefahrenabwehrgesetze, sofern die Spezialgesetze keine abschließenden Regelungen enthalten, ergänzend anzuwenden sind (vgl. z.B. § 1 Abs. 2 S. 2 OBG).[17]
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